Tanz, Pueppchen, Tanz
Flugzeug. Flugzeuge sind bekanntermaßen ein idealer Nährboden für Bakterien. Die ganze stickige Luft, niesende und hustende Menschen, die auf engem Raum zusammengepfercht waren. Und dann der extreme Klimawechsel, die Kälte, die sie nicht mehr gewöhnt ist. Ganz zu schweigen von den Umständen, die sie hergeführt haben, dem Wiedersehen mit ihrer Mutter und ihrem Ex-Mann und den unangenehmen Erinnerungen an eine Vergangenheit, die sie hinter sich gelassen zu haben glaubte.
Das würde jeden erschöpfen. Und dann noch der ganze verdammte Schnee, den sie geschippt hat. Kein Wunder, dass ihre Arme wehtun und ihr Rücken steif ist. Kein Wunder, dass sie ausgelaugt ist. Kein Wunder, dass sie einfach nur wieder zurück ins Bett und weiterschlafen will.
Das Licht in ihrem alten Zimmer brennt noch. Sie geht direkt zum Fenster und starrt auf die Einfahrt zwischen dem Haus ihrer Mutter und dem der Nachbarn. Dabei denkt sie an den armen alten Mr. Walsh und versucht, sich an sein Gesicht zu erinnern. Aber bis auf die Falten, die wie schwere Vorhänge über seinem Gesicht lagen, und die schlaffen Strähnen weißen Haars auf seinem ansonsten fast kahlen Kopf sieht sie nur seinen riesigen Bauch, der die Knöpfe seines kurzärmeligen Hemds zu sprengen drohte und im Sommer über den Bund seiner immer fleckigen Bermuda-Shorts quoll. Während die Kulisse klar und deutlich ist, bleibt das Gesicht des Mannes verschwommen wie ein Foto, auf dem der Hintergrund konturiert und das eigentliche Motiv unscharf ist. Amanda sieht eine große grüne Limousine, die in die gemeinsame Einfahrt biegt, ein gigantisches Walross von einem Mann, das sich aus dem Wagen zwängt, den Schweiß, der von seiner Stirn tropft, als er einen verstohlenen Blick zum Haus ihrer Mutter wirft und vernehmlich schnaubt. Amanda glaubt, sogar ein höhnisches Lächeln zu erkennen, das seine Mundwinkel umspielt. »Du mieser Dreckskerl«, sagt sie laut. »Du hast absichtlich da geparkt.« Kein Wunder, dass meine Mutter dich mit einem Fluch belegt hat.
»Bitte erzähl mir nicht, dass ich tatsächlich Verständnis für meine Mutter habe«, stöhnt Amanda, packt ihre wenigen Sachen aus und verteilt sie auf dem Bett. »Jetzt weiß ich, dass ich krank bin.« Ich muss offensichtlich im Delirium gewesen sein, als ich den gekauft habe, denkt sie, als sie ihren neuen lilafarbenen Pullover hochhält. Lila, Herrgott, noch mal. Und Mohair. Wann will sie den tragen? »Im Bett«, beschließt sie, zieht sich aus und streift den Pullover über den Kopf, der sich auf ihrer nackten Haut wohlig warm anfühlt.
Sie nimmt ihre Zahnbürste, geht ins Bad, betrachtet sich im Spiegel und stellt überrascht fest, wie gut ihr der lilafarbene Pullover steht, ein angenehmer Kontrast zu ihrem blonden Haar und ihren zart geröteten Wangen.
Ich glaube, ich habe dir nie gesagt, wie schön du bist.
Im Augenblick sehe ich jedenfalls bestimmt nicht besonders schön aus, denkt Amanda, bürstet sich die Zähne, wäscht ihr Gesicht und hält es dann dicht vor den Spiegel, um nach winzigen Fältchen zu suchen. »Man ist nie zu jung, um mit Feuchtigkeitscreme anzufangen«, erklärt sie ihrem Spiegelbild, macht den Medizinschrank auf und starrt staunend und mit offenem Mund auf die Batterie von Pillenfläschchen, die sich auf den Regalen reihen.
Zwischen den üblichen rezeptfreien Allerweltsmittelchen findet sie mehrere Fläschchen Tylenol 3 und Percodan sowie eine ganze Ansammlung von verschreibungspflichtigen Anti-Depressiva, von denen einige, wie neulich bekannt geworden war, bei beunruhigend vielen Patienten psychotische Zustände ausgelöst hatten. Ist ihre Mutter eine von ihnen? Stand sie unter dem Einfluss dieser starken Medikamente, als sie John Mallins erschossen hat? Amanda kontrolliert die Ablaufdaten auf den Fläschchen und stellt fest, dass sie allesamt lange überschritten sind. Ist es denkbar, dass ihre Mutter diese Medikamente längere Zeit genommen und dann plötzlich abgesetzt hat, was zu einem chemischen Ungleichgewicht geführt hatte, wodurch ihr rationales Denken massiv gestört wurde, weshalb sie ein Opfer ihrer verminderten Zurechnungsfähigkeit und offensichtlich nicht verantwortlich für ihre Tat ist?
Amanda rennt zurück in ihr Zimmer, reißt das Handy aus der Tasche und will Ben anrufen, um ihm ihre jüngste Entdeckung mitzuteilen und sich ausgiebig dafür zu entschuldigen, dass sie beim letzten Mal nicht im Medizinschrank nachgesehen hat. Was war mit ihr los? Wie konnte sie etwas
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