Tanz, Pueppchen, Tanz
Pause: »Ruf mich morgen Vormittag an.«
»Munter auf Achse«, wiederholt Amanda in Bens kanadischem Akzent. »Ja, ich bin allerdings munter auf Achse.«
Nur bekleidet in meinem neuen Mohair-Pullover schleiche ich im ersten Stock des Hauses meiner Mutter herum wie ein violettes Gespenst, sabbernd bei dem Gedanken an ein fettiges Fast-Food-Gericht, das übrigens schon das zweite heute Abend wäre, sodass mit meinem Appetit offensichtlich alles Ordnung ist, was bedeutet, dass es mir gut geht, Dank der Nachfrage.
Sie spielt Bens Nachricht dreimal ab, bevor sie sie löscht.
»Wann hast du überhaupt angerufen?«, fragt sie das winzige Telefon und ist wütend auf sich, weil sie so früh schlafen gegangen ist, das verdammte Ding nicht aus ihrer Handtasche genommen und deshalb das Klingeln nicht gehört hat. Sie sieht noch einmal auf die Uhr und beschließt, dass es noch nicht zu spät ist, ihn zurückzurufen. Er geht doch bestimmt nicht vor Mitternacht schlafen.
Rufst du mich nachher an?
Auf jeden Fall.
Amanda tippt Bens Nummer ein und wartet, während ihr Finger weiter über den Tasten schwebt, um die Verbindung sofort zu unterbrechen, falls sich sein Anrufbeantworter einschaltet.
»Hallo?«, fragt Ben, bevor das erste Klingeln verklungen ist. Seine Stimme klingt freundlich und offen, und sie will sich darin einkuscheln.
»Ich bin’s.« Im Gegensatz zu ihrem Ex-Mann macht sie sich nicht die Mühe, ihm zu erläutern, wer »ich« ist. »Ich habe gerade deine Nachricht gekriegt.«
»Wo bist du?«
»Zu Hause«, sagt sie, und das Wort geht ihr nur ungelenk über die Lippen. »Bei meiner Mutter«, verbessert sie sich sofort. »Wann hast du angerufen?«
»Vor ein paar Stunden.«
»Ich bin eingeschlafen. Ich hab mein Telefon nicht klingeln hören.«
»Geht es dir gut?«
»Ja. Nur Hunger habe ich.«
Er lacht.
»Dir ist vermutlich nicht danach, essen zu gehen?«
»Geht nicht«, sagt er ohne weitere Erklärung.
Eine ärgerliche Angewohnheit, findet Amanda und stellt sich vor, wie Jennifer ihn von der anderen Seite des Zimmers ansieht, den Kopf zur Seite gelegt, als wollte sie fragen: Wer ruft denn um diese Zeit noch an? Sie wedelt mit der freien Hand, um das unerwünschte Bild zu vertreiben, und sieht zu, wie Jennifer in die Luft fliegt und wie ein billiger Knallkörper explodiert, bevor sie vom dunklen Abendhimmel verschluckt wird.
»Und hattest du schon Gelegenheit, dich noch mal umzusehen?«, fragt er, und Amanda muss sich anstrengen, um sich an die Details des Tages zu erinnern. »Hast du irgendwas entdeckt, was wir beim letzten Mal übersehen haben?«
»Ja«, sagt sie aufgeregt, als ihr der Inhalt des Medizinschranks ihrer Mutter wieder klar vor Augen tritt. »Ich habe Pillen gefunden.«
»Pillen?«
»Mindestens zehn Fläschchen. Antidepressiva, Schmerzmittel – das ganze Programm, alles in ihrem Medizinschränkchen versammelt. Die meisten sind schon vor Jahren abgelaufen, aber das muss nicht heißen, dass sie sie nicht weiter geschluckt hat. Hat sie je erwähnt, dass sie Medikamente nehmen muss?«
»Die einzigen Medikamente, von denen ich deine Mutter je habe sprechen hören, sind ihre Calcium-Tabletten«, sagt Ben, und Amanda kann förmlich sehen, wie er den Kopf schüttelt.
»Meinst du, wir haben vielleicht eine Chance auf verminderte Zurechnungsfähigkeit?«
»Es lohnt sich auf jeden Fall, darüber nachzudenken. Hast du sonst noch was entdeckt?«
»Nichts«, sagt Amanda, »nur dass alle Pflanzen im Haus aus Plastik sind.«
Er lacht wieder, ein von Herzen kommendes Lachen, das durch die Leitung die Finger nach ihr auszustrecken scheint, um über ihre Wange zu streichen.
Amanda hat plötzlich Angst, dass er auflegen könnte, weil ihre Nützlichkeit erschöpft ist und sie nichts Interessantes mehr zu bieten hat. »Hast du Pflanzen?«, fragt sie und fasst das Telefon fester, wie um ihn zu halten.
»Ein paar. Aber denen geht’s nicht besonders gut. Zu viel Sonne, glaube ich.«
Amanda versucht, sich Bens Wohnung in Harbourside mit ihren Fenstern vom Boden bis zur Decke mit Blick auf den See vorzustellen, doch sie sieht nur die winzige Zweizimmerwohnung im ersten Stock vor sich, die sie in der Vaughan Road geteilt hatten. Sie lag in einem alten gelben Backsteinhaus, das schon damals bessere Tage gesehen hatte. Es gab keinen Aufzug, keine Klimaanlage, keine Geschirrspülmaschine. Das Schlafzimmer war kaum groß genug für ein Doppelbett, sie konnten sich nie gleichzeitig im Zimmer bewegen, und auch
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