Tanz unter Sternen
Bootes und versuchte, sich hochzuziehen. Einer der Seeleute schlug ihm das Ruder auf die Finger, aber der Schwimmer ließ nicht ab, er schwang das Bein über die Kante, kassierte einen Hieb auf den Kopf. Das Boot begann gefährlich zu schaukeln. Der Schwimmer ließ sich ins Innere fallen. Die Trockenen wichen vor ihm, dem Nassen, zurück.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«, brüllte Lyman den anderen Schwimmern zu. Er zückte eine Pistole, entsicherte sie und schoss. Ein heller Blitz zuckte an der Mündung auf, und einer der Köpfe im Wasser wurde zurückgeschleudert.
Cäcilie fiel Lyman in den Arm. »Bist du wahnsinnig?«
Die Schwimmer gaben auf, sie blieben in einiger Entfernung. »Bitte, ihr habt doch noch Platz im Boot«, versuchte es einer.
Zwei der Ruderer brachten das Boot fort von hier, während der dritte sich mit dem Ruder bereithielt, nach Angreifern zu schlagen. Lyman rührte sich nicht mehr, er hielt die Pistole in der Hand und starrte benommen ins Dunkel.
»Das sind unsere Kabinennachbarn, die Leute, mit denen wir am Tisch gesessen haben«, sagte Cäcilie. »Eltern und Geschwister. Matheus ist da draußen. Wie kannst du auf diese Menschen schießen!«
»Willst du, dass wir alle untergehen?«, sagte er, aber er sprach nur noch leise, als sei er selbst nicht mehr vollständig davon überzeugt, recht zu haben. »Manchmal muss man unangenehme Entscheidungen fällen.«
»Du Scheusal!«, fauchte Cäcilie.
Die Schwimmer waren bald nicht mehr zu sehen. Man hörte sie auch nicht mehr. Vielleicht waren sie erfroren. Eine Frau nahm Lymans Platz auf der Ruderbank ein, zu viert ruderten sie weg von den Sterbenden.
Lyman war still. Tränen glitzerten in seinen Augen. Verwirrt starrte er auf seine Pistole.
Es wurde leiser, nur noch wenige riefen um Hilfe. Der Tod hielt reiche Ernte. Auch um sie, die Bootsinsassen, fuhr eine neugierige, forschende Kälte, als suche sie ihr nächstes Opfer.
Lyman warf die Pistole ins Wasser. Es gluckste kurz, und sie versank. »So etwas würde ich niemals tun«, flüsterte er. »Lyman hat den Mann erschossen. Ich bin Henry. Henry Holloway.« Ihm liefen Tränen über das Gesicht.
Cäcilie rückte von ihm ab. »Nein. Du hast dich entschieden, wer du sein willst.«
28
E ine Viertelstunde lang beschimpfte Nele die Männer, bettelte, schrie sie an. Allmählich wurde sie heiser. Aber sie konnte nicht aufgeben. »Habt ihr denn keine Verwandten, keine Freunde auf dem Schiff gehabt? Die sterben! Ihr werdet damit leben müssen, dass ihr sie im Stich gelassen habt. Was seid ihr überhaupt für Männer? Memmen seid ihr, Feiglinge!«
Schließlich waren die Hilferufe nahezu verebbt. Da sagte einer der Männer: »Drehen wir um und sehen, ob wir noch jemanden retten können.«
Sie zogen die Ruder vorsichtig durch die Wogen, immer bemüht, nicht noch mehr Wasser aufzunehmen. Nele spähte nach Überlebenden aus. Je näher sie der Unglücksstelle kamen, desto mehr Leichen trieben im Meer. Die Schwimmwesten hielten die steif gefrorenen Körper an der Oberfläche.
All diese Männer und Frauen waren Passagiere der Titanic gewesen, sie hatten ein Ziel in den Vereinigten Staaten von Amerika, womöglich eine Familie, die sie erwartete. Die Reise war nur eine Woche in ihrem Leben gewesen, ein vorübergehender Schiffsaufenthalt.
Niemand lebte mehr, sie kamen zu spät. »Matheus«, rief sie, während die Männer durch das Leichenfeld ruderten. »Hörst du mich?« Sie fühlte sich, als würde sie einen Toten rufen, und erschauderte. Seine Ohren waren doch längst taub, das Herz schlug nicht mehr. Er hing irgendwo in dieser Menge von schwimmenden Leichen, ein toter Mann, den sie geliebt hatte, obwohl sie es nicht durfte.
Nele meinte, zu ihrer Rechten in der Finsternis ein Ächzen zu hören. »Dahin«, sagte sie, »rudert da rüber!«
Die Männer gehorchten.
»Matheus, bist du das?«, rief sie. Diesmal blieb es still.
Sie fanden einen Japaner, der sich an eine Kabinentür gebunden hatte und, darauf liegend, im Meer trieb. Als sie ihn mit dem Ruder anrührten, stöhnte er leise. Sie schnitten ihn los und zogen ihn zu sich ins Boot.
»Seht ihr?«, sagte sie. »Es ist gut, dass wir umgekehrt sind.«
Kurz darauf sah sie im schwachen Sternenlicht einen Mann ohne Schwimmweste und meinte schon, es müsse Matheus sein. Er hing auf zwei Toten, er musste sich mit letzter Kraft auf sie gehievt haben. Als sie ihn aber herausfischen wollte, bekam sie ihn nicht zu greifen. Er rutschte ihr aus der Hand und
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