Tanz unter Sternen
versank.
»Hier lebt keiner mehr.«
»Halten Sie den Mund und rudern Sie.« Nele hielt weiter Ausschau. Nur das Platschen der Ruder durchbrach die Nachtstille. Da hörte sie ein Summen. Sie befahl: »Haltet die Ruder fest! Ich höre etwas.«
Jemand summte ein Lied. Zwischen den Tönen gab es längere Pausen, als müsse die Person mühsam Atem schöpfen. Weißt du wie viel Sternlein stehen … Es war kaum zu hören und musste doch ganz in der Nähe sein. Nele versuchte verzweifelt, festzustellen, von wo das Summen kam.
Dann sah sie ihn. Matheus. Er trieb im Meer, an einen Klappstuhl geklammert. Den Kopf hielt er auf die Unterarme gebettet, die Augen geschlossen. Seine Brauen waren weiß von Reif. Auch im Haar hing Eis.
»Matheus!«, schrie sie.
Seine Augen flatterten.
Sie zerrten den Halberfrorenen ins Boot. Er sackte immer wieder in sich zusammen, aber Nele hob ihn auf und zwang ihn, gestützt von ihr, zu stehen. Das Eiswasser im Boot reichte ihnen bis an die Waden. Längst konnte sie ihre Füße nicht mehr spüren. Wenn Matheus sich ins Wasser legte, würde er vor ihren Augen sterben.
Keiner im Boot verfügte über trockene Kleidung. Nele fuhr Matheus unter das Hemd und rieb ihm Rücken und Brust, um ihn zu wärmen. Irgendwann war er in der Lage, alleine zu stehen. Um sicherzugehen, hielt sie dennoch weiter seinen Arm.
Jede halbe Stunde starb einer von den zwei Dutzend Männern im Boot. Sie sanken einfach um und blieben liegen. Anfangs schoben die anderen die Toten noch über Bord, um den Tiefgang zu verringern. Bald hatten sie selbst dafür keine Kraft mehr. Nele und Matheus standen Hand in Hand und hofften frierend auf den Morgen.
Die halbe Welt habe ich zwischen mich und Mutter gebracht, dachte sie, und doch reicht es nicht. Immer noch verspürte sie eine Mischung aus Sehnsucht und Widerwillen, wenn sie an sie dachte.
Mutter saß jetzt allein in einer heruntergekommenen Wohnung, ging allein schlafen, frühstückte allein, musste Schulden abbezahlen und hatte niemanden, der ihr half oder ihr wenigstens zuhörte.
Matheus drückte Neles Hand, als wollte er sich wortlos bedanken. Sie erschrak. Sie standen in einem Boot, dessen Wände heruntergerissen waren, einem Boot voller Wasser, und waren umgeben von Leichen. Das größte Schiff der Erde war untergegangen. Würde es nach dieser Nacht überhaupt ein Morgen geben?
Mit einem ihrer schmierigen Kavaliere war sie letztes Jahr am Hackeschen Markt gewesen, zu einem sogenannten Neopathetischen Cabaret im Neuen Club. Dort hatte Jakob van Hoddis ein Gedicht vorgetragen, das ihr seitdem nicht aus dem Kopf gegangen war. Weltende hieß es, und eine Zeile lautete: In allen Lüften hallt es wie Geschrei . Ging es nicht auch um die wilden Meere , hieß es nicht auch, es steigt die Flut?
»Wir werden genauso sterben wie die Leute im Wasser«, sagte eine der Frauen in Cäcilies Boot. »Wir frieren, und wir haben nichts zu essen oder zu trinken. Wir treiben hilflos im Atlantik, bis es mit uns zu Ende geht. So sieht’s aus.«
»Es wird Hilfe kommen«, brummte ein Crewmitglied zwischen den Ruderschlägen.
Cäcilie fragte sich, warum sie überhaupt noch ruderten. Die Titanic war untergegangen, die verzweifelten Schwimmer waren tot. Wo wollten sie denn hin? Vielleicht fuhren sie nur durch die Nacht, um ihre Hilflosigkeit zu verbergen und den anderen das Gefühl zu geben, dass sie nicht verloren waren.
»Wie soll man uns finden?«, sagte die Frau. »Wir sind eine Nussschale in einem riesigen Ozean.«
»Wir haben bestimmt eine Lampe im Boot. Schauen Sie unter den Sitzbänken nach.«
Die Passagiere taten es, jeder tastete unter seinem Platz. Niemand fand eine Lampe. Cäcilie fühlte Eis in Samuels Haar. So kalt war der Junge! Sie zog ihm das steif gefrorene Hemd aus und hüllte ihn in ihren Mantel. Um ihn zu wärmen, rieb sie ihm die Arme.
Sie musste daran denken, wie er drei Jahre alt gewesen war und sich vor ihr aufgebaut hatte: »Jetzt bin ich groß, Mama. Ich brauche keine Windeln mehr.« Und wirklich hatte er von diesem Augenblick an nicht mehr in die Hosen gemacht, auch nachts nicht im Schlaf.
Warum zitterte er nicht, obwohl ihm doch kalt sein musste? »Wie fühlst du dich, Samuel?«, fragte sie.
»Ich möchte zur Dampflok da hinten«, hauchte er.
Sie hob sein Gesicht an ihres. »Schau mich an, Samuel.«
Seine Augen blieben geschlossen.
»Samuel, bitte schau mich an.«
Reglos hing er in ihren Armen. Sie hielt ihr Ohr vor seinen Mund, der Atem ging flach.
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