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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Mueller
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war.
    Spitze Kirchtürme ragten in den blauen Aprilhimmel. Der Zug fuhr eine Kurve, Rauch zog am Fenster vorüber, und die Dampflok stieß einen hellen Pfiff aus, der wie ein Fernwehschrei über die Hügel hallte. Die Häuser besaßen hier schwarz-weißes Fachwerk und grüne Fensterläden. Kleine Straßen, gesäumt von Obstbäumen, führten von Dorf zu Dorf.
    »Meine Großmutter«, sagte die alte Frau, die ihr gegenüber saß, »wurde noch in eine Welt ohne Eisenbahn geboren. Damals ging man zu Fuß oder fuhr mit dem Pferdewagen.«
    Nele sagte: »Das muss lange her sein.«
    »Heute hängt alles aneinander, mit Schienen, Gasleitungen, Telegraphenkabeln und Elektrizitätskabeln, eine Menge Sachen, die ich nicht mehr verstehe. So war das früher nicht. Da war man mehr für sich.«
    »Fanden Sie es damals besser?«
    Die Frau strich sich die schlohweißen Haare aus den Schläfen, mit der Geste einer Dame, die sich schönmacht. »Ach, wissen Sie, jede Zeit hat ihre Bürden. Jetzt bringen diese neuen Kühlschiffe Fleisch aus Neuseeland und Argentinien, und es gibt bezahlbaren Kaffee und Südfrüchte, die wir früher nicht hatten.«
    »Das ist doch gut«, sagte Nele.
    »Ja, aber in den Städten stört überall diese Leuchtwerbung. Die ist grässlich, finden Sie nicht? Und alles muss schnell gehen, man kommt kaum noch hinterher, schnellschnell an der Kasse, schnellschnell am Bahnsteig. Die Kinder wollen nicht mehr Polizist werden, sondern Rennfahrer … Für die Liebe und für Freundschaften hat heute keiner mehr Zeit.«
    Die alte Frau erinnerte sie an ihre Mutter. Nele schluckte einen Kloß herunter. Mit ihrer Mutter hatte sie früher so gut reden kön nen. Es war lange Jahre eine wohltuende Gemeinschaft gewesen, die Mahlzeiten, das Lachen.
    »Sie sehen traurig aus«, sagte die Alte. »Haben Sie Liebeskummer?«
    »Nein.« Nele atmete tief ein und aus. »Ich fange ein neues Leben in Paris an.«
    »Sie haben jetzt schon Heimweh, was?« Die Frau sah sie gütig an.
    »Das ist es nicht. Ich denke an meine Mutter. Sie hat so viel für mich getan, und ich habe sie im Stich gelassen. Als ich Kind war, habe ich mir eine Puppe gewünscht. Nie reichte das Geld dafür. Dann hab ich zu Weihnachten eine Puppe unter dem Baum gefunden – endlich! Sie war aus der Fußbank meiner Mutter gebaut, zwei Schemelbeine waren die Arme und zwei die Beine, die Puppe konnte sitzen und hatte dabei die Arme vorgestreckt. Mutter hat ihr sogar einen Puppenrock aus alten Lappen genäht.«
    »Eine patente Frau.«
    »In letzter Zeit haben wir uns viel gestritten. Ich wollte das gar nicht, es ist einfach passiert. Egal, was sie gesagt hat, ich hab mich darüber geärgert.«
    Die Alte tätschelt Nele die Hand. »Es fahren auch wieder Züge zurück. Und Ihre Mutter ist bestimmt stolz auf Sie, dass Sie nach Paris ziehen.«
    Bestohlen habe ich sie, dachte Nele. Mutter war nicht stolz, sondern wütend, schlimmer noch: Sie war enttäuscht von ihr. Nach allem, was sie für Nele getan hatte, beklaut und allein gelassen zu werden! Einsam würde sie sich zu Hause grämen. Die stille Wohnung klagte Nele an.
    »Ziehen Sie aus beruflichen Gründen um?«
    »Ich hoffe, in Paris eine bessere Stelle zu bekommen.«
    »In welchem Bereich?«
    »Ich tanze.«
    Über das Gesicht der alten Frau zog ein Schatten. »Kann man damit seinen Lebensunterhalt verdienen?«
    Sie fragt so, als hätte ich gesagt, ich zähle beruflich Marienkäferpunkte, dachte Nele. Oder als hätte ich ihr erzählt, ich würde Kaffee mit Zichorie fälschen. »Das kann man«, sagte sie etwas schärfer als beabsichtigt. »Wenn man gut ist, wird man gut bezahlt.«
    »Sind Sie gut?«
    »Ich denke schon. Das wissen nur noch nicht genügend Leute.«
    »Dafür nach Paris zu ziehen … Ich meine, nebenher mag so etwas angehen, aber als Brotberuf, und dann diese gewagte Reise – denken Sie denn, im Ausland haben Sie bessere Chancen?«
    Jetzt hörte die alte Dame sich wirklich an wie Mutter. »Paris ist die Vergnügungsmetropole«, erwiderte Nele, »dort gibt es Lustspiele, Opern und Tanzbühnen an jeder Straßenecke. In Paris braucht man Tänzerinnen wie mich.«
    »Sie tanzen in der Oper? Dann müssen Sie wirklich begabt sein.«
    »Ich tanze auf der Revuebühne. Mein Tanz ist zu frei, er würde nicht zur Oper passen. Ich tanze, was ich bei einer bestimmten Musik fühle. Die Choreographie ist nicht vorgegeben, sondern von mir selbst, ich denke sie mir aus.«
    »Revue …« Die Alte zog ihre Handtasche näher an sich

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