Tanz unter Sternen
abzulecken und seinen Urin zu trinken. Ich habe ihn gehasst.«
Zuerst hatte Lyman den Geheimnisvollen gegeben. Jetzt öffnete er sich ihr ganz. Von den bizarren Abgründen seiner Offenbarung wurde ihr schwindelig. Bei ihm gab es wohl nur ganz oder gar nicht. Es wirkte so, als würde ihm die Beichte guttun, als habe er seine Not zu lange für sich behalten, und sei froh, sie endlich mit jemandem teilen zu können.
»Du hast Vanessa nie wiedergesehen?«, fragte sie.
»Natürlich hab ich sie wiedergesehen. Ich bin ihr nachgeschlichen, habe sie abgepasst, wenn sie mit den Kindern spazieren gegangen ist oder zu einem Arztbesuch unterwegs war. Bis sie mich gebeten hat, nicht mehr zu kommen.« Er sagte es gepresst. »Sie hat es nicht ausgehalten, um mein Leben zu fürchten.«
Diese Anspannung in seiner Stimme! Seinen Bruder konnte er nicht besiegen, der Bruder war stärker, er war Lyman überlegen.
Als er sich jetzt aufrichtete, waren seine Gesichtszüge hart. »Ich hätte ihn längst getötet, es gab Dutzende Gelegenheiten. Aber Vanessa wüsste sofort, dass ich es war. Ich kenne sie. Sie könnte keinen Mörder lieben.«
Cäcilie fröstelte, sie zog die Decke höher. »Was du durchgemacht hast, tut mir leid.« Sie sah ihm in die Augen. »Vielleicht kommt der Tag, an dem du sie nicht mehr vermisst.«
Sein Blick wanderte zum Bullauge.
»Früher hatten wir einen Schneider«, sagte sie, »der regelmäßig kam. Ich musste als Kind auf einen Stuhl steigen, und der Schneider nahm Maß und fertigte für mich Kleider an, mein liebstes war aus blütenweißer Baumwolle und mit Rosen bestickt. Die Eltern haben mir auch Hüte bei einer Putzmacherin anfertigen lassen. All das ist vorbei. Es gibt keine Kaviarschnitten und Krabben mehr für mich und keine Suppe mit Eierstich, kein riesiges Tortenstück mit Bergen von Schlagsahne. Irgendwann findet man sich damit ab. Ich habe mich umgewöhnt. Heute freue ich mich schon an Hutzelbirnen.«
Er runzelte die Stirn. »Was sind Hutzelbirnen?«
»Ich schneide Birnen in Scheiben und bringe sie zum Bäcker. Der legt sie für dreißig Pfennige ein paar Tage mit Zeitungspapier auf seinen Ofen, bis sie zusammengeschrumpelt sind. Dann fülle ich sie in ein Leinensäckchen und hänge sie in der Vorratskammer auf. Samuel nascht sie gerne als Süßigkeit. Oder ich koche die Hutzelbirnen zum Mittagessen in Wasser auf.«
Er sah sie spitzbübisch an. »Und du sollst meine Hutzelbirne sein, an die ich mich gewöhne?«
Sekunde um Sekunde wartete Matheus beim Ticken seiner Taschenuhr, Minute um Minute, Stunde um Stunde, bis sich endlich die Kabinentür öffnete und Cäcilie eintrat. Leise schloss sie die Tür.
»Wo warst du?« Der Kleine schlief schon, sie mussten flüstern. Es gelang ihm kaum.
»Ich hatte Kopfweh und bin aufs Promenadendeck gegangen, die frische Luft hat mir gut getan.«
»Dort habe ich dich gesucht, da warst du nicht.«
»So? Wo war ich dann?«
Er gab sich keine Mühe mehr zu flüstern. Er sagte: »In der ersten Klasse, im Speisesaal. Mit einem Mann, der überaus freundlich zu dir war.«
Sie sah zu Samuel hin. »Komm mit«, sagte sie, und ging nach draußen.
Er folgte ihr. Natürlich, sie wollte nicht, dass Samuel von ihrer Untreue hörte.
»Das war ein netter Unterhalter, sonst nichts«, sagte sie draußen. »Aber dir kann ich es ja nicht ehrlich sagen, du bist gleich beleidigt. Was bist du überhaupt für ein Mann, der mir hinterherläuft wie ein Dackel! Du hättest mitgehen können zum Essen, aber nein, du hockst lieber in dieser stickigen Kabine.«
Mit allem hatte er gerechnet, dass sie weinen würde, dass sie ihn um Vergebung anflehen würde. Aber er hatte nicht erwartet, dass sie ihm die Schuld gab. Ihr Gegenangriff verschlug ihm die Sprache.
»Du machst alles kaputt mit deiner Eifersucht«, sagte sie. »Den Reichen neidest du ihr Geld, den Armen ihr Vergnügen. Dauernd redest du dir ein, krank zu sein, statt einmal deinen Mann zu stehen und der zu sein, der du bist, und dich glücklich damit zu fühlen.«
»Ich bin undankbar? Ich bin neidisch? Du hast doch gerade mit Leuten aus der ersten Klasse gespeist, weil dir das Essen bei uns in der zweiten nicht gut genug ist, und wer weiß, die Gesellschaft ist dir vielleicht auch nicht gebildet genug.«
»Da! Du tust es schon wieder. Die Reichen, die erster Klasse reisen, dürfen die nicht ihr Essen genießen? Weil es auch Leute in der dritten Klasse gibt, nicht wahr, das verbietet sich, mit demselben Dampfer zu fahren,
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