Tanz unter Sternen
der Dame zitterten. »Die Verarmten, die dort einkaufen, pflegen die Unsitte, alles zu befingern. Ich möchte kein Stück Obst essen, das durch hundert schmutzige Hände gegangen ist.«
»Was meinen Sie, wer Ihr Obst pflückt? Und wer gießt Ihr Gemüse?«, fragte Matheus. »Es sind die Armen, ganz gleich, wo Sie einkaufen! Kein Reicher würde sich auf dem Feld die Finger schmutzig machen oder auf eine Leiter steigen, um Kirschen zu ernten! Anbauen dürfen es die Armen also und für Sie zum Markt bringen, aber dann sollen Sie’s nicht mehr berühren?«
Unbeirrt fuhr sie fort: »Und die Betrunkenen, die am Morgen durch die Straßen torkeln …«
»Vielleicht würden auch Sie sich betrinken, verehrte Dame«, sagte er, »wenn es in Ihrem Heim nur Geschrei und Gezänk gäbe und wenn Ihre Kinder hungern würden und Sie keine Möglichkeit wüssten, aus dieser Lage wieder herauszukommen.«
»Matheus …«, setzte Cäcilie an.
Der ältere Herr hob beschwichtigend die Hände. »Diese armen Kreaturen, sie gehören ja immerhin zur gleichen Rasse. Nur wissen Sie, der Gestank! Ich bin Arzt. Ich rieche es schon im Flur, ob in meinem Wartezimmer Patienten aus der Unterschicht warten. Wir müssen ihnen beibringen, sich regelmäßig zu waschen.«
»Recht so«, pflichtete die Dame bei, »Bildung rettet aus der Armut. Diese Kreaturen wissen es ja nicht besser. Sie bewohnen ein einziges Zimmer und teilen es mit einem stinkenden Hund. Die Zahnpflege lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Mich bettelte im Hafen jemand an. Er stank so erbärmlich aus dem Mund, ich musste mich abwenden, um mich nicht zu übergeben.«
»Oft sind die Ohren entzündet«, sagte der Arzt, »weil sie nicht gereinigt werden. Und die Augen von all dem Schmutz, in dem die Armen leben.«
Die Dame lächelte. »Ein Bad wirkt Wunder.«
»Ihre Dummheit«, entfuhr es Matheus, »schreit zum Himmel! Wie sollen sich die Ärmsten der Armen ein Bad leisten? Ich komme aus Berlin.« Er korrigierte sich: » Wir kommen aus Berlin«, und nick te in Cäcilies Richtung. »Dort muss man sein Brennholz kaufen. Die Bauern, die das Holz in die Stadt bringen, wollen Bares dafür se hen oder wenigstens einen Eimer Kartoffelschalen zum Düngen.«
Die Dame sagte: »Den sollte doch wohl jeder haben.«
»Eben nicht!«
»Fest steht«, sagte der Arzt, »dass es ihnen auf der Titanic gut geht. Es gab eine Zeit, da sind die Einwanderer ganz anders in die Vereinigten Staaten gereist. Früher brachte man mit demselben Schiff Vieh und Menschen über den Atlantik, aus Amerika Vieh und auf dem Rückweg in die Staaten Menschen, und zwischendrin hat man das Schiff bloß notdürftig gereinigt.«
Der Journalist ergänzte: »Mein Großvater erzählte mir noch, als er über das Meer gereist ist, standen Schilder im Schiff, die es Passagieren der ersten und zweiten Klasse verboten, den Passagieren der dritten Klasse Essen oder Geld hinabzuwerfen, das würde Unruhen hervorrufen.«
Alle lachten, bis auf Matheus.
»Sie haben zwei Badewannen für siebenhundert Menschen«, sagte er.
»Ach, hören Sie doch auf.« Der Arzt verlor seine Geduld. »Auf anderen Ozeandampfern schlafen die Passagiere dritter Klasse in Sälen mit fünfzig und mehr Leuten. Hier haben sie teilweise Kabinen zu zweit. Da wird sich niemand beschweren.«
»Unzufrieden und gierig sind sie immer«, widersprach die Dame. »Man erkennt es an ihrem verschlagenen Blick, mit dem sie einen ansehen.«
»Es gibt auch gierige Reiche, die nach dem schnappen, was anderen Leuten gehört«, sagte Matheus und sah den Verführer an. Saß da ein spöttisches Lächeln in seinen Augenwinkeln? Dieser Hund, er schien sich seiner Sache völlig sicher zu sein.
Matheus musste daran denken, wie er vor einigen Wochen in Berlin über Hiob vierundzwanzig, Vers fünfzehn gepredigt hatte: »Das Auge des Ehebrechers lauert auf die Abenddämmerung, und er denkt: Niemand kann mich sehen.« Der unverfrorene Engländer machte sich nicht einmal die Mühe, seine Tat zu verbergen.
Kellner räumten die Suppenteller ab und brachten dem Engländer und Cäcilie aufwändig garnierte Fleischgerichte, die er nicht kannte – war das Fasan? Der Arzt bekam einen Hummer und seine Frau einen gerösteten Fisch. »Was darf ich Ihnen bringen?«, wandte sich einer der Kellner an Matheus.
Alle Augen richteten sich auf ihn. Zu sagen, dass er nichts wollte, würde ihn geizig erscheinen lassen. Die geschraubten Namen für die feinen Gerichte aber waren ihm nicht geläufig. Verlegen
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