Tao Te Puh
Mannes namens Li Chung Yun. Einer offiziellen, unwiderlegbaren Mitteilung der chinesischen Regierung zufolge, deren Wahrheitsgehalt noch durch eine unabhängig davon durchgeführte eingehende Untersuchung bestätigt wurde, war Li 1677 geboren. Als er über zweihundert Jahre alt war, hatte er noch an einer chinesischen Universität 28 dreistündige Vorträge über die Langlebigkeit gehalten. Wer ihn damals erlebte, gab an, er habe ausgesehen wie ein Fünfziger, hätte groß und aufrecht dagestanden und gesunde Zähne sowie volles Haar gehabt. Bei seinem Tod war er 256 Jahre alt.
Li lief als Kind von zu Hause fort und schloß sich ein paar wandernden Kräutersammlern an. Durch sie wurde er in den Bergen Chinas in die Geheimnisse der Naturmedizin eingeweiht. Er machte täglich von verschiedenen Verjüngungskräutern Gebrauch und unterzog sich zudem taoistischen Übungen. Von anderen, für Körper und Geist anstrengenden Betätigungen glaubte er, daß sie das Leben verkürzten. Wenn er reiste, dann am liebsten auf eine Art, die er „leichtfüßig gehen“ nannte. Junge Männer, die ihn begleiteten, als er schon älter war, konnten nicht mit dem Tempo Schritt halten, das er selbst kilometerlang durchhielt. Er riet allen, die sich eine gute Gesundheit wünschten, „wie eine Schildkröte zu sitzen, wie eine Taube zu gehen und wie ein Hund zu schlafen“. Nach seinem tiefsten Geheimnis befragt, pflegte er jedoch nur zu antworten: „Innere Ruhe.“
Da wir gerade von derlei Sachen reden, wollen wir wieder zu Puh baut ein Haus zurückkehren. Eben hat Christoph Robin Puh eine Frage gestellt:
„Was machst du eigentlich am allerliebsten von der Welt, Puh?“ „Na ja“, sagte Puh, „am allerliebsten . . .“, und dann verstummte er wieder und mußte erst einmal überlegen. Denn obgleich Honigschlecken wirklich eine feine Sache war, gab es doch kurz vor dem Schlecken einen Augenblick, der noch schöner war als das eigentliche Schlecken, aber er wußte nicht, wie man das nannte.
Ist man endlich beim Schlecken, schmeckt der Honig eben gar nicht mehr so gut; einmal erreicht, bedeutet das Ziel nicht mehr so viel; und auch eine Belohnung verliert ihren Reiz, sobald man sie bekommen hat. Wenn wir alles addieren, womit uns das Leben belohnt, kommt nicht viel zusammen. Aber wenn wir die Zeiträume zwischen den Belohnungen addieren, kommt einiges zusammen. Und wenn wir die Belohnungen und die Zwischenzeiten zusammenziehen, haben wir alles miteinander — jede Minute der Zeit, die uns zur Verfügung steht. Sollten wir uns nicht ein Vergnügen daraus machen?
Einmal geöffnet, machen Weihnachtsgeschenke längst nicht mehr soviel Spaß wie vorher, wo wir sie noch untersuchen, anheben und schütteln, daran herumrätseln und sie auspacken können. Und doch gehen wir 365 Tage später erneut an die Sache und merken, wie wieder das gleiche passiert. Jedesmal, wenn das Ziel erreicht ist, ist das Vergnügen nur noch ein halbes, aber schon haben wir das nächste im Auge und danach wieder eins und wieder eins und wieder eins.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß unsere Ziele keinen Wert hätten. Sie haben einen Wert, denn sie bringen uns unter anderm dazu, eine Entwicklung zu durchlaufen, und eben dieser Werdegang macht uns weise, glücklich oder was auch immer. Wenn wir eine Sache falsch anpacken, macht sie uns elend und wütend, sie bringt uns durcheinander und ähnliches mehr. Das Ziel muß zu uns passen, und es muß uns förderlich sein, damit uns auch unser Werdegang förderlich ist. Aber abgesehen davon ist wirklich einzig und allein der Entwicklungsprozeß von Bedeutung. Sich seines Werdens zu freuen ist das ganze Geheimnis, mit dem man all den Märchen vom Großen Preis und vom Zeitsparen den Garaus macht. Vielleicht erklärt uns das ein wenig die Bedeutung, die das Wort Tao, der Weg, für das Alltagsleben hat.
Wie könnten wir denn nun den Augenblick vor dem Honigschlecken nennen? Der eine oder andere würde „Vorgeschmack“ sagen, aber eigentlich ist es mehr als das. Nennen wir es Bewußt-werdung. Das ist der Moment der frohen Erwartung, den wir bewußt erleben. Indem wir uns des Werdens freuen, können wir diese Bewußtwerdung so ausdehnen, daß sie nicht nur einen Augenblick andauert, sondern uns als Bewußtsein bleibt. Und dann macht uns alles Spaß. Genau wie Puh.
Und dann dachte er daran, wie schön es war, mit Christoph Robin zusammen zu sein, und wie nett, Ferkel in der Nähe zu haben, und als er das alles
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