Taran Bd 4 - Der Spiegel von Llunet
Spiegel von Llunet?«, schrie er. Seit er Craddocs Tal verlassen hatte, hatte er alle Gedanken an den Spiegel von sich geschoben. Die Zeit hatte sie begraben, wie tote Blätter einen Grabhügel decken. »Der Spiegel«, wiederholte er mit erstickter Stimme, »das Ziel meiner Suche von Anfang an! Ich hatte die Suche aufgegeben. Finde ich ihn nun, da ich ihn am wenigsten suche?«
»Deine Suche?«, sagte Annlaw erstaunt. Er hatte sich erhoben und sah Taran teilnahmsvoll an. »Davon hast du nie gesprochen, Wanderer.«
»Es würde mir wenig Ehre bringen«, erwiderte Taran.
Jetzt aber konnte er alles erzählen, von Caer Dallben, von Orddu, von all den Stationen seiner Fahrt, von Craddocs Tod und von seiner Verzweiflung. Und Annlaw hörte geduldig zu. Sein Gesicht drückte Güte aus. »Einst«, schloss Taran, »hatte ich keinen anderen Wunsch, als in den Spiegel zu blicken. Doch jetzt würde ich es kaum mehr wagen, selbst wenn ich ihn in der Hand hielte.«
»Ich verstehe deine Angst«, antwortete der Töpfer ruhig. »Der Spiegel könnte dir Ruhe bringen oder dich noch mehr quälen. Es ist ein Wagnis. Und du musst dich entscheiden. Du sollst wissen, Wanderer«, fuhr Annlaw fort, während Taran sich schweigend auf die Lippen biss, »es ist nicht ein Spiegel, wie du ihn dir vorstellst. Er liegt ganz in der Nähe, im Llawgadarn-Gebirge, nur zwei Tagesreisen entfernt, in einer Höhle am See Llunet. Der Spiegel von Llunet ist ein Tümpel.«
»Ein Tümpel?«, schrie Taran. »Und welcher Zauber verleiht ihm diese Macht? Verzaubert muss er doch sein.«
»Er ist es für die, die ihn dafür halten«, antwortete der Töpfer.
»Und du?«, fragte Taran leise. »Hast du je versucht hineinzusehen?«
»Nein«, erwiderte Annlaw. »Ich weiß, wer ich bin: Annlaw, der Töpfer. Wohl oder übel muss dieses Wissen mein Leben lang ausreichen.«
»Und für mich?«, murmelte Taran. »Welches Wissen würde für mein Leben ausreichen?« Er schwieg, dann hob er den Kopf. »Es ist wahr. Ich scheue mich vor dem, was er mir sagen könnte. Aber ich habe Schande genug auf mich geladen«, rief er bitter. »Muss es auch noch Feigheit sein? Morgen früh«, sagte er bestimmt, »reite ich zum Spiegel von Llunet.«
Seine Entscheidung verschaffte ihm eine gewisse Erleichterung. Beim ersten Tagesgrauen sattelten er und Gurgi die Pferde. Seine Zweifel machten ihn mehr frösteln als die kühlen Nebel des Spätherbsttages. Dennoch schlug er, da er sich entschieden hatte, ein scharfes Tempo an und ritt von Merin aus nordwärts zu den Bergen von Llawgadarn. Er fasste den hohen Gipfel des Meledin ins Auge, denn am Fuß dieses Berges sollte er nach den Worten Annlaws die Höhle finden. Die Gefährten ritten schweigend und in gleichmäßigem Tempo dahin. Erst als der Abend sich senkte, hielten sie an, um auf dem weichen Teppich der Fichtennadeln ihr Lager aufzuschlagen. Beide erfüllte eine tiefe Unruhe, und sie schliefen nur wenig. In der Dämmerung des neuen Tages ritten sie zügig auf dem Kamm eines Höhenrückens weiter. Da stieß Taran plötzlich einen Schrei aus und deutete hinab: Der See Llunet glänzte in der Morgensonne. Ruhig und blau schimmerte das Wasser und schien selbst ein Spiegel zu sein, der die waldigen Ufer in seinen Tiefen barg. In einiger Entfernung ragte der Meledin-Gipfel schwerelos aus einem Nebelmeer in den klaren Himmel.
Tarans Herz schlug heftiger, als sie ihren Weg hinab zum Ufer suchten. In Richtung auf den Meledin fiel das Land steil ab, spärliche Grasnarben gingen in sanft abfallende Hänge über. Neben einem Wildbach banden sie die Pferde fest. Taran hatte die Höhle bereits entdeckt und eilte darauf zu. Gurgi folgte ihm.
»Dort!«, schrie Taran. »Dort! Der Spiegel!«
Am Fuß des Meledin hatten Wind und Wetter eine gewölbte Höhlung in den Fels gefressen, die wenig mehr als ein paar Fuß tief war. Dünne Rinnsale tröpfelten über die moosbewachsenen Felsen herab. Taran stürzte darauf zu. Sein Herz schlug, sein Puls raste. Doch je näher er kam, desto langsamer wurde sein Schritt. Furcht, schwer wie eine Fessel, lähmte seine Beine. Am Eingang der Höhle blieb er einen Augenblick stehen. Gurgi sah ihn angstvoll an.
»Hier ist es also«, murmelte Taran. Er machte einen Schritt nach vorn. In der Höhle lag der Spiegel von Llunet wie ein Schild aus poliertem Silber und leuchtete von innen heraus. Langsam kniete Taran am Rand nieder. Im Becken stand das Wasser nur fingerbreit. Es wurde von einem fadendünnen Rinnsal gespeist,
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