Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
jungen Völker über ihre Welt gebracht haben. Es ist das einzige Zeugnis, das uns von den Kristalldrachen geblieben ist, seit sie diese Welt verlassen haben.«
Kristalldrachen! Sein Vater hatte dem Orden der Kristalldrachen angehört. Und mit einem Mal erkannte Tarean auch die Zeichen an den Wänden – sie glichen den Runen auf der Schneide Esdurials! »Bromm, hilf mir«, bat er, denn er wollte dem geheimnisvollen Fremden auf Augenhöhe entgegentreten, ganz gleich, wie elend er sich fühlte. Er verzog schmerzerfüllt das Gesicht, als der Bär die Trage ablegte und ihn auf die Beine stellte, aber dann richtete er das Wort an den Unterirdischen. »Verzeiht, aber wer seid Ihr, und was wisst Ihr von den Kristalldrachen?«
»Mein Name«, sprach der andere, »ist Câch’drokk, und mehr Fragen werde ich dir heute nicht beantworten.« Er winkte ihn mit einer Hand näher. »Aber nun komm. Du bist hier, damit wir den Schmerz von dir nehmen können, der auf dir lastet.«
Tarean zögerte. Eine seltsame Befangenheit ergriff ihn angesichts dieses uralten und ganz offenbar von der Alten Macht erfüllten Ortes. »Was soll ich tun?«
Der Unterirdische begann, um das Becken aus Licht herumzuschreiten. »Tauche ein in das Bad der Tränen, denn es heißt, mit den Tränen beginnt jede Heilung.«
Tareans Blick irrte zu dem Bären, aber der zuckte nur mit den breiten Schultern. »Du hast gesagt, sie wären unsere Freunde …«
Câch’drokk trat an ihre Seite und bot dem Jungen die Hand. »Fürchte dich nicht. Ich werde dich stützen und dir beistehen.«
Tarean holte tief Luft, dann ergriff er die dargebotene Rechte.
Gemeinsam stiegen sie in das Becken hinein, natürliche, ausgewaschene Stufen hinab, wie Gläubige, in der Absicht, sich von ihren Sünden reinzuwaschen. Die Tränen des Kristalldrachen umspülten seine Füße, dann seine Beine, seine Hüften und schließlich stand er fast bis zur Brust in dem Felsenbecken, gebadet in flüssiges Licht. Es hatte den Widerstand von Wasser und trug seinen Körper, wenn er träge die Beine vom Beckenboden abstieß, doch es war weder kalt noch nass. Stattdessen umfing ihn eine angenehme Wärme, und er spürte, wie sein ganzer Körper von einem sanften Prickeln erfüllt wurde, das jeden Schmerz betäubte und jedes Gewicht von seiner Seele zu nehmen schien.
»Bromm!«, rief Tarean.
»Was ist?« Nervös trabte der Bär am Ufer des Beckens hin und her.
»Es ist unglaublich! Ich kann es nicht beschreiben, aber es fühlt sich wunderbar an. Als … als würde mein ganzer Körper von der Alten Macht durchströmt.«
»Tauche ein«, sagte der Unterirdische, »und lass dich treiben, bis die Tränen des Drachen deinen Schmerz gelindert haben.«
Und der Junge schloss die Augen, breitete die Arme aus, ließ sich nach hinten fallen und versank.
Tarean träumte.
Er stand auf einer leeren Ebene. Dichter Nebel umwaberte ihn und nahm ihm die Sicht auf den Himmel und alles Land, das ihn umgab. Unschlüssig, was er tun sollte, drehte er sich um die eigene Achse, dann lief er aufs Geratewohl los. Es war, als wandle er durch Wolken, und es war, als sei er das einzige Geschöpf auf Erden.
Doch das stimmte nicht.
Auf einmal sah er in einigen Schritt Entfernung einen Körper auf dem Boden liegen. Er trat langsam näher und erkannte, dass es eine Frau war. Sie trug ein Gewand aus feinstem, goldenem Gespinst, und die Haut ihrer bloßen Arme und Beine war hell wie ein klarer Frühlingsmorgen. Langes, blondes Haar verdeckte ihr Gesicht, und aus ihrem Rücken wuchsen zwei filigrane, schmetterlingsartige Flügel, die sie wie eine hauchzarte, durchscheinende Decke halb um den Leib geschlungen hatte. Eine schwache Aura goldenen Lichts umgab sie, und ihr Körper war von einem seltsamen Funkeln erfüllt, so als sei er – und damit auch sie – nicht ganz von dieser Welt.
Tarean stockte der Atem. »Moosbeere?«
Es mochte der Klang seiner Stimme in diesem Refugium der Stille gewesen sein oder einfach nur Zufall, doch auf einmal fing das Irrlicht an, sich zu rühren. Gebannt beobachtete der Junge, wie sich das Geschöpf, das eindeutig Moosbeere war, dabei indes den zierlichen, doch unverkennbar menschlichen Körper einer jungen Frau hatte, zu ihm herumrollte, wobei ihr Haar zur Seite glitt und das schöne, ebenmäßige Gesicht enthüllte. Fast mühevoll, so als habe sie diese seit Ewigkeiten nicht mehr bewegt, entfaltete Moosbeere ihre Flügel, dann erhob sie sich in eine halb sitzende Stellung … und schlug die
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