Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
strahlend blauen Augen auf. »Tarean?« In ihrer Stimme lag ein unnatürlicher Hall, so als überbrücke sie einen tiefen Abgrund.
»Träum ich oder wach ich?«, flüsterte der Junge.
Für das Irrlicht schienen derlei Fragen nicht von Bedeutung zu sein. »Tarean!« In einer einzigen fließenden Bewegung erhob sich das Irrlicht, schwang sich scheinbar federleicht in die Luft, huschte auf ihn zu und brachte ihn dann fast zu Fall, als sie sich ihm ohne Vorwarnung an den Hals warf, ihm einen stürmischen Kuss gab und ihn fest an sich drückte.
Es war ein unbeschreiblich seltsamer Augenblick. Tausend Fragen wirbelten gleichzeitig in Tareans Kopf umher, und in seiner Brust stritten Verwirrung, Wiedersehensfreude und plötzliches Begehren miteinander. Denn zumindest eines stand ohne Zweifel fest: Als Däumling war Moosbeere süß gewesen, als Frau blendete ihre Erscheinung im wahrsten Sinne des Wortes das Auge des Betrachters. Und obwohl es war, als seien sie durch einen funkelnden Schleier getrennt, den auch die größte Willensanstrengung nicht würde niederzureißen vermögen, spürte Tarean gleichzeitig ihre Nähe mit einer Macht, die ihn überwältigte. Ein leichter Wind kam auf und verwirbelte die Nebelschwaden zu ihren Füßen.
Zögernd hob der Junge die Arme, um die Umarmung zu erwidern, aber so wie in der Wirklichkeit wagte er auch im Traum nicht, Moosbeere zu berühren, und ebenso unvermittelt, wie sie über ihn hergefallen war, ließ sie auch schon wieder von ihm ab und ging auf eine Körperlänge Abstand. »Wo seid ihr? Und wie geht es dem brummigen Bären?«, fragte sie fröhlich.
Die Sprunghaftigkeit des Irrlichts raubte Tarean schier den Verstand. Reiß dich zusammen , ermahnte er sich selbst. »Ich … ich weiß es nicht genau. Wir befinden uns irgendwo unter der Erde bei einem Volk von Steinmenschen. Bromm geht es gut. Wir sind abgestürzt, aber die Steinernen haben uns gerettet, und ich hoffe, dass sie uns sobald wie möglich den Weg nach At Arthanoc weisen.«
Der Wind wurde langsam stärker. Er spielte mit Moosbeeres Gewand und ihrem blonden Haar und ließ ihre Flügel flattern. »Was geschieht hier?« Tarean sah sich um und erstarrte. Eine gewaltige, schwarze Wolkenwand rollte von Osten direkt auf sie zu. »Oh, Dreigötter, steht uns bei …«
»Rasch«, drängte das Irrlicht. »Ich fürchte, uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Wie meinst du das?«
Der Wind zerrte nun sichtlich an ihrem schlanken Körper, und sie hatte Mühe, nicht fortgeweht zu werden. »Sag mir, was du mir sagen musst, und frag mich, was du mich fragen willst, aber tu es rasch.«
»Moosbeere, nein«, rief Tarean und streckte den Arm aus. »Gib mir deine Hand. Ich will dich nicht verlieren.«
Das Irrlicht legte die zarte, schlanke Hand in die seine, doch es blickte ihn dabei mit sanftem Mitleid an, wie eine Lehrmeisterin den Schüler, der sich redlich mühte und trotzdem nicht verstehen konnte. Auf einmal wirkte sie sehr alt. »Das wird nichts nützen, Tarean. Aber hab keine Angst. Es ist doch nur ein Traum, und mir wird nichts geschehen. Wir sehen uns wieder, aber du musst mich gehen lassen, wenn ich gehen muss.«
Die Wolkenfront war nun beinahe heran, und der Sturm brauste um sie, als wären sie wieder an Bord des zerbrechlichen Flugschiffes. »Dann … warte.« Seine Gedanken rasten. »Sag mir wenigstens noch, ob Auril lebt. Und was ist mit Karnodrim? Und wo seid ihr? Könnt ihr es schaffen, zu uns zu stoßen?«
Moosbeere wollte gerade antworten, da fuhr eine Orkanböe von unvorstellbarer Gewalt zwischen sie, riss ihr die Worte aus dem Mund und zog und zerrte an ihrem elfenhaften Körper.
»Moosbeere!«, brüllte der Junge und stemmte sich mit aller Kraft gegen das Toben des widernatürlichen Sturms.
Ein Lächeln breitete sich auf den Zügen des Irrlichts aus, ihr Mund formte lautlos drei kurze Worte – dann ließ sie seine Hand los. Sogleich wurde sie von unsichtbaren Kräften gepackt und emporgehoben und wirbelte davon wie ein Blatt im Wind. Binnen eines Herzschlages war sie nicht mehr als ein Glitzern in der Dunkelheit.
»Moosbeere!« Der Schrei des Jungen gellte durch das Nichts …
Alles wird gut … Die beruhigenden Worte des Irrlichts klangen im Gewölbe von Tareans Geist nach, als er langsam die Augen öffnete.
Dann zuckte er erschrocken zusammen und war mit einem Schlag hellwach, denn direkt neben seinem Kopf hockte ein Unterirdischer. »Dreigötter, habt ihr eigentlich nichts Besseres zu tun, als Leuten beim
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