Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
niedrigen Mauer, die das Turmdach einfasste, niedergelassen und blickte ins Tal hinab. In der Ferne lag die kleine Ansammlung eng zusammenstehender Häuser, die das Dorf Ortensruh bildeten. Von den Schornsteinen stiegen feine graue Rauchsäulen auf und zerfaserten in der kühler werdenden Abendluft. Etwas oberhalb thronte Dornhall, und am gegenüberliegenden, fernen Ende des Tals glommen die Lichter und Feuer der Feste Cayvallon. Soeben verschwand die Sonne hinter den Bergen im Westen und tauchte die schneebedeckten Gipfel ein letztes Mal in rotgoldenes Licht, und weit droben am dunkelblauen Himmel zogen dünne Wolkenstreifen im Höhenwind von Osten nach Westen dahin.
»Es sieht alles so friedlich aus in der Abenddämmerung.«
Tarean war sich nicht sicher, ob der Vogelmensch zu sich selbst sprach oder mit ihm. Er nickte dennoch und brummte zustimmend, als er sich neben ihn setzte und seinen Proviant auspackte. Eher nebenbei bemerkte er, dass auch der Holzstoß des Wachfeuers von den Wolfsmenschen umgestoßen und über das ganze Dach verteilt worden war, und er gemahnte sich, den Stapel morgen, bevor er den Rückweg antrat, wieder aufzuschichten – denn dass er noch heute zum Einbruch der Nacht über den Höhenpfad nach Dornhall zurückkehrte, stand in seinem augenblicklichen Zustand außer Frage.
»Hast du auch Hunger?«, erkundigte er sich und bot Iegi von seinen Äpfeln, dem Brot und der Dauerwurst an – angesichts der erlittenen Strapazen eigentlich eine rhetorische Frage.
Dankbar griff Iegi zu.
»Wie geht es deinem Bein?«, fragte Tarean kauend.
»Erstaunlich gut«, erwiderte Iegi mit einem Unterton, der Tarean aufschauen ließ. Der Vogelmensch legte seinen angebissenen Apfel zur Seite und löste den Verband, den er nach wie vor um den Oberschenkel trug.
»Bei den Dreigöttern!«, entfuhr es dem Jungen, als er sah, dass die hässliche Wunde in den wenigen Stunden, die sie geschlafen hatten, nicht nur aufgehört hatte zu bluten, sie erweckte vielmehr den Eindruck, als sei sie schon mehrere Tage am Verheilen. Iegi würde eine sichtbare Narbe zurückbehalten, daran bestand kein Zweifel. Aber dass ihm diese Wunde ansonsten noch einmal Kummer bereiten würde, war kaum anzunehmen. Und überhaupt fiel Tarean jetzt auf, dass der junge Vogelmensch erheblich besser aussah, als dass es nur durch die kurze Erholungspause zu erklären gewesen wäre. Viele seiner kleineren Blessuren schienen bereits vollständig verschwunden, und er wirkte ausgeruht wie nach zwölf Stunden in einem bequemen Bett – oder worauf auch immer Wesen schliefen, denen zwei riesige Schwingen und ein bis zu den Waden reichender Schwanzfederkranz aus dem Rücken wuchsen. »Das Amulett deines Vaters hat seine Wirkung nicht verfehlt, würde ich sagen.«
Iegi grinste nur und das wiederum ließ ihn, aller Fremdartigkeit zum Trotz, ungemein menschlich wirken.
»Du, sag mal«, setzte Tarean ein paar Bissen später dazu an, die Frage zu stellen, die ihn nun schon eine Weile beschäftige, »ist es ungebührlich, zu fragen, was genau du eigentlich bist? Ich habe deinesgleichen noch nie hier in Bergen gesehen.«
»Das wundert mich nicht«, gab der Vogelmensch zurück, »wir Taijirin leben auch nicht in den Arden. Unsere Heimat sind die Wolkenberge im Osten von Rûn.«
»Die Wolkenberge …«, murmelte Tarean. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Nun, dazu müsstest du auch viele Tage durch von Wolfskriegern besetztes Land ziehen. Es reist sich heute nicht mehr so gut, wenn man nicht frei wie ein Vogel über alle Grenzen hinwegsegeln kann.« Iegi lächelte.
»Und das hast du getan?«
»Nicht nur ich. Auch mein Vater und ein halbes Dutzend seiner Krieger.«
»Was hat euch nach Bergen verschlagen?«
»Nicht nach Bergen. Wir wurden eingeladen, nach Cay…« Da stockte Iegi auf einmal und schaute leicht verlegen drein. »Ich weiß nicht, ob ich dir das verraten darf.«
Plötzlich spürte Tarean Aufregung in sich aufsteigen. »Ihr seid auf Wunsch Hochkönig Jeorhels hier? Ihr seid die neuen Verbündeten, die er für seinen Kampf gegen Calvas gewinnen will.«
Der Taijirin sah ihn mit großen Augen an. »Woher weißt du das alles?«
Nun war es an Tarean, verlegen zu sein. »Nun … man hört das eine oder andere Gerücht in Dornhall.«
»Hm«, brummte Iegi zweifelnd und wandte den Blick zurück ins Tal. »Ich weiß ja nicht, ob …«, setzte er an, doch dann brach er auf einmal ab und kniff die Augen zusammen. »Warte mal. Was ist das?«
»Was
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