Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
»Los«, drängte Auril. »Wenn wir Glück haben, verlieren die Grawls an diesem Ort unsere Spur. Dieser würzige Wohlgeruch hier«, sie grinste, »verwirrt ihre verwöhnten Nasen.«
Hastig stolperten sie durch das Halbdunkel, Tarean immer dem unsteten, tanzenden Licht folgend, das die Albin in der rechten Hand hielt und das ihre Körper als bizarre Schatten an die gewölbten Wände warf.
»Wohin laufen wir eigentlich?«, wollte er wissen.
»Nach Westen, zum Fluss«, antwortete Auril über die Schulter. »Unweit der Stadtmauer gibt es einen Auslass. Dort liegt ein Ruderboot vertäut. Wenn wir Glück haben und die Nacht dunkel wird, kommen wir über den Fluss ungesehen aus der Stadt.«
»Ihr habt wirklich an alles gedacht.«
»Der vorsichtige Geist plant voraus.«
Geduckt hetzten sie weiter, immer dem braunen, stinkenden Strom folgend, der sich träge dem Riva entgegenwälzte. Ein oder zwei Mal rutschte Tarean auf dem mit glitschigen grün-braunen Algen bewachsenen Boden aus, doch die kräftige Pranke Bromms auf seiner Schulter bewahrte ihn davor, in die Kloake zu stürzen. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, wie es schien, tauchte vor ihnen ein helleres Halbrund in der Schwärze des Ganges auf, und die Fließgeschwindigkeit des Brackwassers zu ihren Füßen erhöhte sich. Auril löschte daraufhin ihre kleine Fackel und bedeutete ihnen, leise zu sein. »Wir sind fast da.«
Behutsam schlichen sie näher, bis zu einem niedrigen vergitterten Auslass am Ende des Tunnels, durch den die Kloake in den Riva floss. Dahinter, in vielleicht zweihundert Schritt Entfernung, war das Westufer des Südviertels von Agialon zu sehen. Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen, und erste kleine Lichtinseln zeugten von Fackeln und Laternen, die Hafenarbeiter und Schänkenbesitzer entzündet hatten.
»Bromm?«
Mit leisem Murren ließ sich der Hüne vom Sims gleiten und landete platschend in der Kloake. Tarean verzog das Gesicht bei dem Gedanken, in die stinkende Brühe steigen zu müssen, doch anders ließ sich die Kanalisation nicht verlassen. Bromm trat an ihnen vorbei, umfasste mit beiden Händen das Gitter, das an einem rostigen Scharnier befestigt den Auslass versperrte, und zog kraftvoll daran. Mit protestierendem Quietschen öffnete es sich nach innen, und der Weg war frei. Rasch schlüpften sie hindurch, bevor Bromm das Gitter zurück an seinen Platz zerrte.
Sie hatten es tatsächlich geschafft und waren entkommen! Innerlich jubelte Tarean, und auch von Aurils verspannten Schultern schien eine Last abzufallen, als sie ihn anblickte und zum ersten Mal, seit sie einander kennen gelernt hatten, aufrichtig lächelte. Es ließ ihr Gesicht jünger und weicher erscheinen, und der Junge schalt sich innerlich einen Narren, als er sich unvermittelt bei dem völlig unpassend aufsteigenden Gedanken ertappte, wie schön sie doch war.
Bromm hatte sich unterdessen an einem nahen Gestrüpp zu schaffen gemacht, das kurz über dem Wasserspiegel am Ufer wuchs. Plötzlich grollte er: »Auril.«
Der Junge und die Albin blickten zu dem Hünen hinüber, und dieser zog den Busch zur Seite.
Das Boot war verschwunden.
7
FLUSSFAHRT MIT BÄR
Fassungslos starrte Auril auf den schmalen Streifen Kiesstrand unterhalb der befestigten Uferböschung, der immer wieder von kleinen Wellen des vorüberfließenden Riva überspült wurde. Bis vor zwei Tagen hatte dort, unter einem Busch versteckt, ein kleines Ruderboot gelegen, ein Ruderboot, das Bromm und sie, als sie nach Agialon gekommen und in das leerstehende Haus unweit des Hafens eingezogen waren, absichtlich dort zurückgelassen hatten, nur für den Fall, dass sie irgendwann gezwungen sein sollten, Agialon rasch und möglichst nicht durch die gut bewachten Stadttore zu verlassen – so wie jetzt. Wortlos und mit verkniffener Miene sah die Albin ihren Gefährten an. Ihr Blick sprach Bände.
»Das ist nicht gut«, murmelte Tarean tonlos. »Was machen wir jetzt?«
»Das ist eine gute Frage.« Aurils Stimme klang gepresst.
In der Ferne – und doch nicht so fern, wie es ihnen lieb gewesen wäre – hallte wie zur Antwort das langgezogene Geheul der Wolfsmenschen durch die verwinkelten Gassen Agialons. Von einem Moment zum anderen hatte sich ihnen die eben noch in scheinbar greifbarer Nähe liegende Freiheit entzogen wie eine launische Geliebte, und der Fluss hatte sich in ein Hindernis verwandelt, an dem ihre Flucht zu scheitern drohte.
»Es gäbe eine Möglichkeit«, meinte Bromm gedehnt. »Wir
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