Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
herausschälten. Einerseits war Tarean dankbar dafür, nicht die vollen siebenhundert Schritt bis zum Fuß des Bruchs hinabblicken zu können. Andererseits war dieses Absinken in eine dem Auge unermessliche Tiefe beinahe noch unangenehmer. Stumm stand er in der Mitte der Transportplattform und hielt den Blick auf die Grauen Berge und den dahinter anbrechenden Tag gerichtet, während neben ihnen die lotrecht abfallende, felsige Wand des Bruchs vorbeizog.
Haffta schien sich kaum weniger unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Die Grawlfrau hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und ihre Ohren lagen flach am Kopf an, während sie unruhig von einem Bein auf das andere trat. Iegi stand, auf seinen Kampfstab gestützt, neben ihnen und hatte immerhin den Anstand, angemessen ernst dreinzublicken. Einzig Moosbeere, die sich mit Beginn der Fahrt wieder zu ihnen gesellt hatte, schien einmal mehr völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen, die um sie herum vorgingen. Vergnügt summend huschte sie auf der Plattform umher, blieb gelegentlich auch mal über ihnen zurück, wenn sie irgendetwas Interessantes an der Felswand entdeckte, und schwebte mit solch argloser Selbstverständlichkeit jenseits des Geländers über dem Abgrund, dass Tarean sie am liebsten gereizt an seine Seite befohlen hätte. Eigentlich verrückt, dachte er bei sich, in ein Flugschiff bin ich ohne nachzudenken eingestiegen. Und hier schlägt mir das Herz bis zum Hals. Zugegebenermaßen waren die Umstände seinerzeit etwas anders und ihre Abreise eher überstürzt gewesen.
Mit der Zeit wurde die Fahrt erträglicher. Das eintönig gleichförmige Abwärts stärkte langsam, aber sicher das Vertrauen des Jungen in die settische Baukunst. Und als schließlich das fahle Blau des Morgens den Himmel über ihnen erhellte, begann die Faszination mehr und mehr die dumpfe Angst in seinem Inneren zurückzudrängen. Schließlich trat Tarean sogar mit Iegi an die Brüstung und ließ den Blick schweifen, wie am Vorabend von der Kante des Bruchs aus.
Gridoman schwitzte. Er hatte sich nicht vorgestellt, dass es so anstrengend sein würde, mit Hilfe des Tretrades eine Last den Bruch hinabzulassen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man einfach nur einen Sicherheitshebel lösen müssen, und die Rollen mit den Seilen hätten sich von selbst abgewickelt. Doch um zu verhindern, dass mit der unsachgemäßen Verwendung eines solchen Hebels ein unkontrollierter Absturz einherging, hatten die Erbauer der Kräne die Taue durch Bolzen so stark gesichert, dass man nun Manneskraft aufwenden musste, egal, ob man die Transportplattform heraufziehen oder hinablassen wollte – nur die Laufrichtung änderte sich dadurch.
Um die Rollen abzuwickeln, mussten Gridoman und sein Neffe das Laufrad mit Blick zur Kante des Bruchs bedienen. Dadurch entging ihnen, dass mit dem ersten Grau des Tages eine einsame Gestalt aus dem Schatten der Bäume trat und sich mit ruhiger Zielstrebigkeit den Kränen näherte. Der glatzköpfige Sette merkte erst, dass etwas nicht stimmte, als er unvermittelt ein bösartiges Knistern auf der anderen Seite der Balkenkonstruktion vernahm, gefolgt vom Japsen und Gurgeln seines Neffen. Dann polterte ein schwerer Körper zu Boden.
»Brokibar?« Gridoman hielt inne und schielte unsicher nach links. Aus den Augenwinkeln erhaschte er gerade noch ein bläuliches Flackern, das durch die Zwischenräume der Balken irrlichterte. Außerdem schien es seiner feinen Nase so, als rieche es leicht verkohlt. »Brokibar!« Besorgt öffnete er die Seitenluke des Tretrades und kletterte ächzend hinaus. Auf kurzen Beinen eilte er um die Ecke der Krankonstruktion – und prallte erschrocken zurück.
Eine schlanke, junge Vogelmenschenfrau stand direkt vor ihm. Sie trug ein kurzes, zerschlissenes Gewand, und die normalerweise sicher prachtvollen Flügel auf ihrem Rücken waren schmutzig und zerzaust. Auf ihren Zügen, einem Mädchengesicht, das unter ihresgleichen zweifellos als hübsch galt, lag ein Ausdruck beiläufiger Grausamkeit, und in ihren Augen brannte ein violettes Feuer, das Gridoman instinktiv zurückweichen ließ. Ihr Mund verzog sich zu einem schmallippigen Lächeln. »Sorge dich nicht um Brokibar. Er hat sich, des Tagewerks überdrüssig, nur ein wenig zur Ruhe gelegt.«
»Wer bist du?«, keuchte der Sette voller Grauen.
»Es ist unnötig, dass wir uns vorstellen. Wir werden nicht viel Zeit miteinander verbringen.« Damit hob die Frau den Arm, und aus den zu Klauen verkrümmten
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