Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Warum?«
»Damals habe ich versucht, mich alleine dem Schicksal zu stellen. Den Hexenmeister zu besiegen und den Grimmwolf zu vernichten, um den Namen meines Vaters reinzuwaschen. Ich habe nach unserer Trennung über Undur nicht einmal versucht, Karnodrim, Moosbeere und dich zu finden, sondern bin gleich von Tiefgestein nach At Arthanoc weitergereist. Dort habe ich auch noch Bromm und Kiesel zurückgelassen und bin alleine hinauf in den Turm des Hexers gestiegen. Ich dachte, es sei meine Bestimmung, dieser Herausforderung ganz auf mich gestellt gegenüberzutreten. Doch was war die Folge? Ich hätte versagt und wäre gestorben, wenn ihr nicht alle herbeigeeilt wärt, um für mich und an meiner Seite zu kämpfen. Gemeinsam haben wir vollbracht, wozu einer nicht imstande gewesen wäre.« Ein beschwörender Ausdruck legte sich auf seine Miene. »Mit deiner Vision verhält es sich ganz genauso. Du siehst das Furchtbare, und du hast Angst davor, es nicht verhindern zu können. Wahrscheinlich kannst du das auch wirklich nicht, so lange du es alleine versuchst. Also lass uns alle daran teilhaben. Lass uns offen reden. Gemeinsam mag es uns gelingen, dem Schicksal, das du gesehen hast, zu entgehen und trotzdem die Kristalldrachen zu retten, wie Kesrondaia es mir aufgetragen hat.«
In Aurils grünen Augen flackerte es. Konnte es sein, dass Tarean recht hatte? Konnte es sein, dass sie die ganze Zeit buchstäblich den gleichen Fehler gemacht hatte, den sie ihrem Vater auf Cayvallon insgeheim vorgeworfen hatte? Wie er hatte sie unsichtbare Mauern um Tarean gezogen, wenn auch nicht aus Eigennutz, sondern um den Jungen zu beschützen. »Ich muss über deine Worte nachdenken«, sagte sie. »Bitte gib mir noch einen Tag.«
Tarean ließ ihren Arm los und nickte. »In Ordnung. Gute Nacht, Auril.« Er rang sich zu einem Lächeln durch, das wohl aufmunternd sein sollte, aber eher etwas hilflos wirkte. Dann wollte er an ihr vorbeitreten, doch Auril hielt ihn am Arm fest.
»Warte, Tarean. Eines möchte ich dir noch sagen. Ich habe mit Iegi gesprochen.«
Sie sah, wie sich der Junge bei dem Namen des Vogelmenschen leicht versteifte.
»Es ist alles gut«, fuhr sie rasch fort. »Wir haben beendet, was immer zwischen uns gewesen sein mag. Es lag niemals in unserer Absicht, dir wehzutun, das musst du mir glauben. Wir sind nur noch Freunde. Mehr waren wir im Grunde auch nie. Und mehr werden wir nie sein.« Die Albin legte ihm sanft die Hand auf die Brust. »Hör zu, Tarean. Unser Wiedersehen stand bislang unter keinem guten Stern: Raisils Tod, meine dunklen Vorahnungen, deine Eifersucht auf Iegi … Und ich war wohl auch ein wenig eifersüchtig auf Moosbeere, weil sie dir in den letzten sechs Monden so viel näher sein durfte. Aber ich gebe zu, dass diese Eifersucht albern ist. Moosbeere ist ein Irrlicht, oder nicht?« Sie schmunzelte. »Was ich aber sagen will: Lass uns all das vergessen, was in den letzten Tagen geschehen ist. Lass uns die letzten sechs Monde vergessen. Wir stehen noch einmal in den Trümmern von At Arthanoc, blicken in den Sonnenaufgang und beginnen von vorne. Was meinst du?«
Auril blickte Tarean in die Augen, und es schien, als breche ein Sturm der Gefühle in seinem Inneren los. »Auril, ich …«
»Nein. Sag kein Wort«, flüsterte sie. Dann zog sie ihn an sich und küsste ihn. Am Horizont mochten die Glutlande auf sie warten, und schon der nächste Tag mochte ihnen aufs Neue Leid und Tod bescheren. Doch in diesem einen Augenblick auf den Zinnen der Wachfeste am Rande der nondurischen Wildnis wollte Auril all das vergessen. Dieser eine Augenblick sollte nur Tarean und ihr gehören. Sie hatten beide lange genug darauf gewartet.
Doch es sollte nicht sein. Einen Moment lang erwiderte Tarean Aurils Drängen, und seine Lippen suchten hungrig und fordernd die ihren. Aber dann entzog er sich ihr zu ihrer Überraschung unvermittelt und schob sie auf Armeslänge von sich. »Ich kann nicht. Es tut mir leid«, murmelte er mit rauer Stimme.
Auf das Antlitz der Albin legte sich ein Ausdruck von Erschrecken und Verwirrung. »Tarean, was ist los mit dir? Hast du dir nicht genau das immer gewünscht?«
Der Junge räusperte sich. »Ich … ja. Mehr als alles andere«, stammelte er. »Und dennoch … Ich muss mir noch über eines klar werden. Ich …« Er rieb sich mit einem Ausdruck unendlicher Erschöpfung mit der Hand übers Gesicht und seufzte. »Bitte gib auch du mir noch einen Tag«, bat er dann.
Einen Herzschlag lang
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