Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
und seine weit aufgerissenen Augen versuchten angestrengt, den lichtlosen Raum zu durchdringen, der ihn im Abstand von wenigen Schritten umlauerte. Doch er konnte keine Gefahr entdecken.
Er hatte sich ungefähr zwanzig Schritt in die Höhle hineingewagt, als, wie auf einen unhörbaren Befehl hin zum Leben erweckt, nicht weit vor ihm eine hohe, steinerne Felsnadel in düsterem Rot erblühte. Das unheilige Glühen, das zweifellos den feurigen Strömen zähflüssigen Gesteins in den Eingeweiden der Erde geschuldet war, nahm an Kraft zu, bis es den sanft goldenen Schimmer des Drachenstabs überstrahlte und einen weiten Kreis aus beinahe schwarzem, doch blutig rot beschienenem Fels enthüllte. Es war eine düstere, unheimliche Unterwelt aus riesigen, geborstenen Steinblöcken, die sich vor Tareans Augen auftat, gleich dem untergegangenen Reich einer längst vergessenen Zivilisation.
Und dann trat hinter der Säule ein Mann hervor.
»Calvas!«, rief Tarean voller Schrecken und Unglauben. Er hatte erwartet, irgendwo in den Dunkelreichen auf den Hexenmeister zu treffen. Es war unvermeidlich gewesen. Doch das schattenhafte Geschöpf, als das ihnen Calvas auf ihrer bisherigen Reise begegnet war, gab es nicht mehr. Vor dem Jungen stand einmal mehr ein Mann in einer langen dunkelblauen Robe aus schwerem Stoff. Seine vor dem Bauch gefalteten Hände verschwanden in den weiten Ärmelsäumen, und sein Gesicht lag im Schatten einer Kapuze verborgen, die der Hexer über den Kopf gezogen hatte. Feine schwarze Dunstschleier umwaberten seine Gestalt, stiegen aus seiner schweren Robe auf und von dem Boden, den seine Füße berührten. Das aber war der einzige Hauch von Unwirklichkeit, der den Hexer umwehte. Also ist der böse Schatten, zu dem Calvas nach seinem Tod wurde, erneut Fleisch geworden. Die Schattenwelt der Dunkelreiche muss dieses Wunder vollbracht haben.
Calvas machte ein paar Schritte auf den Jungen zu, hob dann die Hände und schlug die Kapuze zurück. Sein weißes Haar, das sein graues, scharf geschnittenes Antlitz umrahmte, hatte im Licht der Felsnadel eine ungesund rötliche Farbe angenommen. Und in seinen Augen brannte unversöhnlicher Hass.
Tarean ließ den Drachenstab fallen. Für diesen Kampf benötigte er nur eine Waffe. Er ergriff sein machterfülltes Schwert mit beiden Händen und sprach ein einzelnes Wort: »Esdurial.«
Sogleich sprang der Funke vom Heft des Schwertes auf die Klinge über. Dann leckten weiße Flammenzungen die silberne Schneide empor, umschmeichelten die Kristallrunen und brachten sie zum Funkeln. Schließlich explodierte Esdurial in einer Welle grellweißen Lichts, die sich sprunghaft, wie ein zuschlagendes Raubtier, ausbreitete, um die Dunkelheit der Höhle in einem weiten Kreis in Felsspalten und Bodenritzen zu jagen. Doch diesmal erlebte Tarean eine Überraschung.
Denn die Finsternis ließ sich mitnichten vertreiben. Vielmehr erwies sie sich als dicht und undurchdringlich, wie eine Wand aus flüssigem Pech, gegen die das Licht anbrandete wie Wasser gegen eine Dünenkette, bevor es an Kraft verlor und in der Schwärze versickerte. Übrig blieb Esdurial selbst, dessen Klinge nach wie vor in tosendes Drachenfeuer gehüllt und doch nur ein fahles Abbild des strahlenden Fanals der Hoffnung war, das die Waffe an anderen Orten und zu anderen Zeiten wieder und wieder gewesen war.
Einige Herzschläge lang blickte Tarean verwirrt auf die Waffe. Lag es an den Dunkelreichen, oder hatte das Schwert tatsächlich an Kraft verloren? Er sah, dass sich auf den Zügen des Hexers ein schmales Lächeln ausbreitete. Beiläufig hob Calvas die Rechte, und der am Boden liegende Stab wirbelte durch die Luft und direkt in seine zupackende Faust. »Ah. Ist das nicht der Stab, mit dem ich dich in Undur beinahe besiegte?«, bemerkte er, als er das Artefakt musterte. »Wie passend. Diesmal bringe ich mein Vorhaben zu Ende.«
Das Gesicht des Hexers verzerrte sich zu einer Grimasse. Er ergriff den runenverzierten Schaft mit beiden Händen, so fest, dass die Knöchel seiner spinnenbeinartigen Finger weiß hervortraten. Und auf einmal kroch von diesen ausgehend eine faulig-schwarze Patina über das matt glänzende Metall. Wie Schimmel, dessen wochenlanges Wachstum auf magische Art und Weise beschleunigt worden war, breitete sie sich völlig lautlos über den Stab aus und hüllte ihn schließlich beinahe vollständig ein. Zuletzt glitt die Schwärze über den leuchtenden Kristall an dessen oberem Ende und schien sein
Weitere Kostenlose Bücher