Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
»Halt!«, schrie sie erneut, und trotz ihrer verschwindend geringen Größe, fuhr ihre Stimme allen Anwesenden durch Mark und Bein.
Verwirrt hielt der Herr der Tiefe inne. »Was …?«
»Das darfst du nicht«, rief das Irrlicht und huschte in die Höhe, um Ghorca’than direkt in die Augen blicken zu können. »Denk an die alten Gesetze. Sie galten damals, und sie gelten heute. Das weiß ich zufällig ganz genau«, belehrte ihn Moosbeere. »Und das wichtigste von ihnen besagt: Du darfst nicht gegen die jungen Völker kämpfen!«
»Wer bist du, und woher weißt du das?«, donnerte der Herr der Tiefe. Wutentbrannt funkelte er das im Vergleich zu ihm kaum stecknadelgroße Irrlicht an. Für einige Herzschläge standen sich die beiden ungleichen Kontrahenten gegenüber. Schließlich ließ Ghorca’than ein enttäuschtes Grollen hören und wandte den Blick ab.
Er senkte den Kopf und sah Tarean mit mühsam zurückgehaltener Wut an. »Aber so leicht entkommst du mir nicht. Meine Diener sind den alten Gesetzen nicht unterworfen.« Schnaubend stampfte er zum Eingang der Kammer. Dann stieß er ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus, das den hohen Gang entlangwehte und hinaus in die weitläufige Säulenhalle.
Ein leises, mehrstimmiges Lärmen und Heulen antwortete ihm. Gleich darauf setzte ferner Tumult ein, so als stürme ein Heer von Monstrositäten heran, um seinem Gebieter zu Diensten zu sein.
Der Herr der Tiefe wandte sich mit düsterer Miene um. »Werdet damit fertig, dreiste Sterbliche«, grollte er zufrieden und ging zu seinem Kristallthron zurück, um sich dort niederzulassen und das Schauspiel zu genießen.
»Es geht los!«, rief Auril. »Lauf, Tarean. Wir halten diese Ungeheuer auf, so lange wir können.«
Ghorca’than lachte dröhnend bei diesen Worten. »Ja, lauf, junger Sterblicher. Ich bin gespannt, ob du dein Ziel erreichst.«
Der Junge zögerte. »Auril … ich …«
»Geh schon!«, schrie die Albin. »Alles weitere später!« Sie nickte Bromm, Fenrir und Haffta zu, die losrannten, um den Dämonen im Gang zu begegnen, wo es leichter war, sich ihrer zu erwehren, als in der Kammer des Herrn der Tiefe.
Auch Tarean wirbelte herum, aber er stürmte in die andere Richtung, auf die unregelmäßige Öffnung in der Wand zu, die zweifellos auf Ghorca’thans Wirken zurückging. Moosbeere eilte ihm bereits voraus. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Ich liebe dich, Auril!«, rief er der Albin nach.
Seine Gefährtin wandte sich ebenfalls um, und das Feuer in ihren grünen Augen loderte hell auf, als ihr Blick die Entfernung zwischen ihnen beiden durchmaß. Ich weiß, schien er zu sagen. Sie hob Esdurial zum Gruß.
Tarean tat es ihr gleich.
Dann wandten sich beide ab, und jeder eilte seinem Schicksal entgegen.
Tief unter der Erde wurde Kesrondaias Traum Wirklichkeit.
Mit wachsamem Blick betrat Tarean die Höhle am Ende des steilen Tunnels, der ihn von der Kammer Ghorca’thans in die Tiefe geführt hatte. Von Moosbeere, die nicht auf ihn gewartet hatte, als der Kampf losbrach, war keine Spur zu sehen. Aber das machte nichts. Das Irrlicht wusste, was es tat – vielleicht besser als sie alle zusammen. So viel zumindest war dem Jungen während der kurzen Auseinandersetzung, die es mit dem Herrn der Tiefe gehabt hatte, klar geworden.
Aus der Ferne drang das Heulen und Brüllen der tobenden Dämonen an seine Ohren. Doch er zwang sich, seinen Geist davor zu verschließen. Seine Aufgabe lag nicht dort oben, wo seine Gefährten um ihr und sein Leben kämpften. Seine Rolle sah vor, dass er versuchte, zum Siegel vorzudringen.
Zögernd setzte Tarean einen Fuß vor den anderen. Hoch über ihm wölbte sich die zerklüftete Decke des majestätischen Felsendoms und verlor sich, wie auch die Wände zur Linken und zur Rechten, in der Schwärze jenseits des dämmrigen Kreises aus Licht, der von dem faustgroßen Edelstein des Drachenstabs ausging. Eigentlich hatte Tarean ein Feenfeuer entzünden wollen, um sich in der Finsternis zu orientieren. Doch nach kaum zehn Schritten in den Gang hinein hatte der runenverzierte Stab in seiner linken Hand zu leuchten begonnen, als spüre er die Nähe einer gewaltigen Ballung der Alten Macht.
Langsam drang der Junge in die Finsternis vor. Seine Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Herr der Tiefe keine Fallen auf dem Weg zum Siegel aufgestellt hatte. Unruhig schwenkte Tarean Esdurial und den Runenstab mal hierhin, mal dorthin,
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