Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
führte, seit sie im Dienste Cayvallons das Treiben der Wolflinge in den Kernlanden ausspioniert hatte. Das Gegenstück hatte ursprünglich ihr Vater besessen, doch dieser hatte es nach der Schlacht um At Arthanoc seiner Tochter zur Weitergabe an Tarean geschenkt – ein kleines Zugeständnis, um ihr die Trennung von dem Menschenjungen etwas leichter zu machen.
Das Wasser des Sehens …
Nicht vielen Alben war es vergönnt, diese kostbare Flüssigkeit aus den Tiefen des Berges unter Cayvallon zu besitzen. Nur dem inneren Kreis des Hochkönigs sowie einigen hochgestellten Persönlichkeiten in der verborgenen Albenstadt Fuencarral stand dieses seltene Gut zu. Niemand, nicht einmal die Gelehrten, wusste genau, woher das Wasser des Sehens eigentlich kam. Der unauslotbar tiefe Pfuhl in der im Lichte ewiger Feenfeuer schimmernden Kaverne, die Auril erst einmal in ihrem Leben hatte betreten dürfen, besaß keinen sichtbaren Zufluss, noch strömte das silbrige Nass irgendwohin ab. Es hieß, dass das Wasser aus dem Felsgestein selbst dringe und dass in der Bergsohle unter der Feste des Hochkönigs ein unbekannter Quell der Alten Macht begraben läge.
Andererseits war es den Alben auch einerlei, woher das Wasser des Sehens kam, so lange es – albischer Magie ausgesetzt – seine Wirkung entfaltete. Allgemein bekannt war, dass man mit seiner Hilfe Gespräche über weite Entfernungen führen konnte. Doch es gab einen zweiten, geheimeren Nutzen, der außerhalb der Mauern Cayvallons nur einem erlesenen Kreis Eingeweihter bekannt war.
Ich möchte nicht wegsperren, was in meinem Herzen brennt, nur damit sich der Orakelspruch irgendeiner wahnsinnigen Seherin in den Kavernen unter Cayvallon bewahrheiten kann.
Denn das Wasser des Sehens vermochte mehr, als nur Fenster an ferne Orte zu öffnen. Wenn man die silbrige Flüssigkeit zu sich nahm, so hieß es, ermöglichte sie einem sogar den Blick in kommende Zeiten. Die Visionen mochten verwirren und ihre Bilder schwer zu deuten sein, was dazu führte, dass die albische Priesterin, die in einer an Gefangenschaft grenzenden Zurückgezogenheit auf der Burg des Hochkönigs lebte, meist in Rätseln sprach, wenn sie das Gesehene für Jeorhel und seine Getreuen deutete. Doch dass diesen Bildern ein wahrer Kern zugrunde lag, vermochte selbst Auril nicht mehr zu bestreiten, seit sie in den Strudel der Ereignisse rund um die Prophezeiung des Fluchbringers geraten war.
Ich will verdammt sein, wenn ich mir meinen Weg von irgendwelchen höheren Mächten vorschreiben lasse. Wenn ich ihnen nicht einen Strich durch die Rechnung mache …
Die Albin biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, während sie auf die winzige Phiole in ihren Händen blickte. Die Flüssigkeit im Inneren schimmerte verheißungsvoll im fahlen Mondlicht, das durch das kleine Fenster in der Außenwand des Schiffes fiel.
Doch das Wasser des Sehens verhieß nicht nur die Zukunft. Es konnte auch den Wahnsinn bringen. Ein schwacher Geist mochte nicht imstande sein, das Wissen um das, was kommen würde, zu verkraften. Und auch die machterfüllte Flüssigkeit selbst hinterließ ihre Spuren im Verstand des Trinkenden. Auril hatte im Laufe der Jahre drei Seherinnen auf Cayvallon kennengelernt – keine von ihnen hätte, ihre gesellschaftliche Stellung einmal außer Acht gelassen, an einem Markttag das nahe Ortensruh besuchen können, ohne beträchtliches Aufsehen unter den einfachen Gemütern der Landbevölkerung zu erregen.
Tu, was du willst. Was dein Herz dir sagt.
Tarean. Haben wir eine Zukunft? Ich muss es wissen …
Auril holte tief Luft, entkorkte die Phiole und führte sie rasch an den Mund.
»Auf uns! Und darauf, dass wir den Herrn der Tiefe das Fürchten lehren!«
Mit einem dumpfen Klacken stießen Tarean und Iegi ihre steinernen Bierhumpen zusammen und nahmen dann einen kräftigen Schluck.
Der Taijirinprinz verzog das Gesicht. »Ganz schön süß das Zeug.« Dann bemerkte er, dass sein Freund irgendwie abwesend wirkte. »He, was hast du?«
Tarean stellte seinen Krug auf den Tisch. »Ich dachte nur eben an den Herrn der Tiefe, den du das Fürchten lehren willst. Mir würde es schon reichen, wenn er uns nicht das Fürchten lehrt.«
»Du denkst einfach nicht in den Maßstäben eines zukünftigen Königs«, neckte ihn der Vogelmensch. »Gib dich niemals mit Gold am Boden zufrieden, wenn am Himmel Diamanten glitzern.«
»Höchst poetisch, mein Freund«, gab Tarean zurück. »Ich werde dich an deine Worte erinnern, wenn
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