Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
wir, von einem wutschnaubenden Ungeheuer verfolgt, schreiend durch die Dunkelreiche fliehen.«
»Alter Schwarzseher.« Iegi grinste und hob erneut den Krug.
Drei Tage war es mittlerweile her, dass sie den Kristalldrachenstein hinter sich gelassen hatten. Ihr Weg hatte sie durch die nördliche Hälfte von Undur geführt, eine Einöde, in der kaum eine Menschenseele lebte. Immerhin hatte die Kargheit der Landschaft mit zunehmender Entfernung von den eisigen Weiten Firnlands mehr und mehr nachgelassen. Hatten anfangs vor allem hartes, braunes Gras und struppige, dunkelgrüne Büsche einen entbehrungsreichen Kampf gegen die harsche Witterung und die Wasserarmut an der Erdoberfläche geführt, war das Land mit jeder Meile, die sie weiter südlich geflogen waren, grüner geworden.
Mittlerweile führte sie ihr Weg über kleine Nadelwälder hinweg, und die hellen Felsrücken der zuweilen regelrecht turmartig aufragenden Karstberge waren von dichtem, dunklem Grün bedeckt, sodass sie aus der Ferne den Anschein stark bemooster Findlinge erweckten. Trichterförmige Senken von mitunter mehreren Hundert Schritt Durchmesser und Tiefe übersäten das Land, Stellen, an denen die weitgehend unterirdisch verlaufenden Ströme Undurs das poröse Gestein so ausgehöhlt hatten, dass es zu Einstürzen gekommen war. Und wären die Gefährten darauf angewiesen gewesen, sich am Boden fortzubewegen, wären sie vermutlich deutlich langsamer vorangekommen.
Im Laufe des dritten Tages schließlich waren die Ausläufer der Grauen Berge, zu denen sie bis dahin einen etwa gleichbleibenden Abstand von zehn Meilen gehalten hatten, näher gerückt, und im selben Maße hatten die Spuren von Besiedlung zugenommen. Ein Blick auf die Karte Endars, die Tarean vor einer gefühlten Ewigkeit aus dem Haus von Beornhard dem Krieger in Agialon hatte mitgehen lassen, hatte ihnen gezeigt, dass sie die Grenze nach Settland überschritten hatten. Diesem Umstand war es auch geschuldet, dass sie am heutigen Abend in einem Gasthaus saßen, das zu einem kleinen, namenlosen Marktflecken gehörte, an dem sich die settischen Bauern und Erzschürfer des näheren Umlandes trafen.
Fremde sah man hier draußen, gute vierzig Meilen nördlich der Handelsstraße, die zur Hauptstadt Settlands, Bergspitze, führte, nur selten. Und wenn doch welche aufgetaucht waren, so hatte es sich in den letzten sechzehn Jahren vor allem um räuberische Wolflinge oder grimmige Waldläufer gehandelt. Dementsprechend waren Tarean und Iegi auch von den Bewohnern mit einer gesunden Mischung aus Neugierde und Misstrauen empfangen worden, als sie mit Moosbeere und Ro’ik müde und hungrig über die einzige Dorfstraße, einen breiten Weg aus gestampfter Erde, den Ort betreten hatten. Nichtsdestoweniger hatten die einheimischen Setten das Wort Gastfreundschaft noch nicht völlig vergessen, und nachdem Tarean, einer plötzlichen Eingebung folgend, in das Gespräch mit dem Schankwirt des einzigen Gasthauses des Martkfleckens eingeflochten hatte, dass sie aus Tiefgestein kamen, wurden die beiden Jungen sogar mit ausgesuchter Höflichkeit bedient.
Nun saßen sie auf kurzen Bänken an einem schweren, solide gezimmerten Tisch an der Rückwand des niedrigen Schankraumes des »Schwarzen Brulls«, aßen und tranken und machten sich Gedanken über das Ziel ihrer Reise.
»Hast du eine Vorstellung davon, wie es in diesen Dunkelreichen aussieht?«, erkundigte sich Iegi, nachdem er seinen Bierkrug wieder abgesetzt hatte.
Tarean zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nur das, was in den Büchern der Dreigötter niedergeschrieben steht. Der Legende nach ist es eine Welt des Feuers und der Schatten. Man sagt, dass die Seelen derer dorthin geschickt werden, die sich im Leben ihren Platz in den Himmeln noch nicht verdient oder – schlimmer noch – durch ihre Untaten verwirkt haben. Dort sollen sie an Vazars Seite gegen die Horden der Finsternis kämpfen, bis sie das, was sie im Leben zu tun versäumt haben oder sich haben zuschulden kommen lassen, wiedergutgemacht haben.« Dem Jungen lief ein Schauer über den Rücken. Auf Darstellungen der Dunkelreiche, etwa den Holzschnitten im Buch Vazar in der Kapelle von Dornhall oder dem kleinen Dreigöttertempel von Ortensruh, sah man meist ausgemergelte, an der Grenze zur Erschöpfung stehende Sünder, die im Schatten des gewaltigen Schwertarms Vazars gegen Dämonengezücht vorrückten, das sie mit blitzenden Klauen, glühenden Augen und feurigem Atem erwartete. Er nahm
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