Tatort Mallorca - Die Tote in der Moenchsbucht
verwendet. In stärkerer Form angewandt, kann es zu einer visuellen Agnosie, einer sogenannten Blindsichtigkeit, kommen, wie Sie wissen.“
„Wie äußert sich eine Agnosie?“ fragt eine Teilnehmerin neugierig.
„Der Patient kann sehen, aber das Gesehene nicht mit dem Verstand verifizieren. Wenn Sie ihm einen Apfel zeigen, weiß er, dass er etwas Rundes vor Augen hat, aber kann es nicht als Apfel erkennen.“
Das Dia wechselt zur Abbildung eines Holzschnittes, auf dem Eva und Adam abgebildet sind. Aus ihren Köpfen sprießen zwei Fruchtblätter und zwei Früchte. „Hier zum Beispiel die Alraune. In der Homöopathie werden Spuren davon gegen Kopfschmerzen verwendet. Die Bestandteile sind wie bei der Tollkirsche Scopolamin, Atropin und Hyoscyamin ...“
Weitere ausführliche Darstellungen, gespickt mit Fachbegriffen, folgen. Obwohl Margo ihren Vortrag spannend gestaltet, klappen Julias Augendeckel ganz gegen ihren Willen immer öfter zu. Sie gähnt verstohlen.
Ein lautes, dumpfes Geräusch, als würde ein Sack auf einen Holzboden geschleudert werden, begleitet von einem allgemeinen Aufschrei, reißt Julia aus ihren Träumen. Erschreckt öffnet sie die Augen und braucht einen Moment, um sich zurechtzufinden. Halb hinter dem Rednerpult liegt ein buntes Häufchen Stoff. Margo. Ihr rasselnder Atem wird offensichtlich vom Mikrofon verstärkt. Im Saal entsteht Aufruhr. Alle sind aufgestanden, einige Teilnehmer rennen im Gang unruhig hin und her und raufen sich die Haare, kreischen und weinen. Hetyei kniet neben der bewusstlosen Margo und versucht sie durch Mund-zu-Mund-Beatmung zu reanimieren. „Macht endlich Platz, lasst mich durch, ich bin Arzt.“ Ein junger Mann mit Arzttasche versucht sich durch die unruhige Menge zu boxen. Kurze Zeit später schiebt er der Bewusstlosen eine Atemmaske über den Mund. Hetyei steht hilflos daneben. Dann straffen sich seine Schultern, und er tritt an das Pult: „Ruhe bitte. Wir werden alles Notwendig tun.“ Bei seinen Worten kommt von der geschlossenen Saaltür ein lautstarkes Pochen, plötzlich wird es still. Alle Augen wenden sich zur Tür. Polizisten erscheinen im Türrahmen, besetzen den Eingang mit den Worten: „Policia locale.”
Der Meister steht da und schaut ebenso hilflos wie alle anderen, bis er den Polizisten zuruft: „Bitte kümmern Sie sich um einen Krankenwagen, wir haben einen Notfall!“
Der Angesprochene reagiert nicht gleich.
„Ja, einen Notfall!“ bekräftigt Hetyei. „Schnell!“
Der Polizist bellt etwas in ein Sprechfunkgerät, um dann zu sagen: „Die Ambulanz wird verständigt.“ Er winkt noch einen Kollegen herbei.
„Bitte setzen Sie sich und bewahren Ruhe“, ruft jetzt Hetyei dem Auditorium zu. Die aufkeimende Unruhe weicht hier und da einem Wispern. Aber irgendwie scheinen alle von dem Geschehen wie gelähmt, auch Julia kann kaum denken.
„Mord“, hört sie hinter sich, „sie ist ermordet worden.“ Ihr fallen die Bemerkungen von Gunter ein und dass es einen Mord gab. Aber was hat das hier mit dieser Frau zu tun? Ist sie ebenfalls umgebracht worden? Vor aller Augen? Zwei Leute kommen mit einer Trage im Laufschritt den Gang entlang. Einer beugt sich zu Margo hinunter, flüstert mit dem Arzt. Das Sauerstoffgerät wird gegen ein anderes ausgetauscht, die leblose Gestalt mit der Maske über dem Gesicht auf die Trage bugsiert. Einige Teilnehmer im Saal beginnen laut zu beten, die meisten schweigen, die Hand entsetzt vor dem Mund, bis sich der kleine Trupp in Bewegung setzt. An der Spitze marschiert ein Polizist in Uniform, dann die beiden Rettungsdienstler mit der Trage, dann der Arzt und dann Hetyei. Nachdem die Prozession den Saal verlassen hat, brandet Unruhe auf. Stimmen schwirren durcheinander.
„Es musste ja so kommen ...“ – „Sicher hat Margo ein Geheimnis gelüftet, sie war eine begnadete Seherin ...“ – „Mir waren diese Reden von einem Zusammenschluss gleich nicht geheuer ...“
Weitere Mutmaßungen werden durch die barsche Aufforderung des Polizisten unterbrochen: „Bitte verlassen Sie einzeln und geordnet den Saal. Versammeln Sie sich im Speiseraum.“
Die Teilnehmer setzen sich langsam und schweigend in Bewegung und marschieren wie angewiesen auf den Ausgang zu. Julias Augen suchen Rebekka, können sie aber nirgends entdecken. War sie überhaupt im Saal?
Eingekeilt in der Menge, beschweren sich einige lautstark: „Mit welchem Recht kommandiert man uns hier rum?“ – „Die Polizei hat kein Recht, uns
Weitere Kostenlose Bücher