Tatort Oslo - Unehrlich waehrt am laengsten
irgendeinen Einwand vorbringen konnte, stürzten der kleine und der große Junge schon wieder nach draußen, wo ein nahezu grenzenloser Abenteuerspielplatz lockte. Sie tollten lärmend um die Hütte herum, wirbelten mächtig Schnee auf und schossen auf alles, was sich nicht bewegte. Als Franziska durchs Fenster schaute, hatten sie auf der Brüstung der Veranda kleine Schneemänner errichtet, denen sie mit großem Hallo die Köpfe wegschossen.
»Bist du sicher, dass dein Freund schon volljährig ist, Mama?«
Claudia lächelte gequält.
✶ ✶ ✶
Am frühen Nachmittag unternahmen sie einen Spaziergang. Die Sonne wollte sich, kaum dass sie am Himmel stand, schon wieder verabschieden. Hartes Winterlicht brach fast waagerecht durch das Dickicht der Zweige. Der eiskalte Schnee knirschte unter den Schuhsohlen, während Frostrauch aus ihren Mündern dampfte. Franziska hatte ihre Haare zu zwei schmalen Zöpfen geflochten, die dunkel unter ihrer roten Mütze hervorlugten. Claudia stapfte, ihre Hände in den Taschen vergraben, dahin und versuchte, sich jedes Detail dieser Winterwunderwelt genau einzuprägen, um sie sich später ins Gedächtnis rufen zu können. Lukas hatte darauf bestanden, das Gewehr mitzunehmen, um sich notfalls gegen Braun-, Schwarz- oder Grizzlybären verteidigen zu können. Aufmerksam ließ er seinen Blick mal hierhin, mal dorthin schweifen, als sei er allein für die Sicherheit seiner Familie verantwortlich.
Nachdem sie sich eine Zeit lang durch die hügelige, dicht bewaldete Landschaft gekämpft und einen vereisten Bach überquert hatten, tat sich plötzlich eine weite Lichtung vor ihnen auf. Unwillkürlich blieben sie stehen und atmeten tief durch, gebannt von dem großartigen Panorama, das sich ihnen bot. Franziska musste an ihre erste Begegnung mit der Paradiesbucht denken, die sich ebenso überraschend gezeigt hatte.
Vermutlich lag es an der Schönheit dieses unverhofften Ausblicks, dass ihre Konzentration kurzzeitig beeinträchtigt war. Jedenfalls nahm keiner von ihnen wahr, dass in diesem Moment, vielleicht dreißig Meter zur Rechten, ein älteres Paar zwischen den Bäumen hervorkam und geradewegs auf sie zumarschierte. Erst als ihnen ein fröhliches »Das ist ja eine Überraschung!« entgegenschallte, fuhren sie wie auf Kommando herum.
»Wer hätte gedacht, hier einer lebenden Seele zu begegnen«, sagte der Mann mit jovialem Lächeln. »Haben Sie auch eine Hütte in der Gegend?«
»Ja, wir …«, begann Claudia, die sichtlich erfreut war, ein kleines Schwätzchen halten zu können. Doch Leif, dem offenbar der Schreck in die Glieder gefahren war, riss sie grob am Ärmel. »Wir müssen jetzt los!«, grummelte er ungehalten, setzte sich mit Riesenschritten in Bewegung und zerrte Claudia hinter sich her.
»Leif!« Claudia warf ihm einen halb vorwurfsvollen, halb verständnislosen Blick zu. »Leif, was soll denn das?«
»Erklär ich dir später«, zischte er und konnte sich gar nicht schnell genug aus dem Staub machen.
»Lukas! Franziska!«, kommandierte er, als riefe er seine Hunde.
Lukas stapfte mit geschultertem Gewehr hinter ihm her. Nur Franziska drehte sich noch einmal zu den Senioren um, die offenbar nicht wussten, was sie von diesem seltsamen Benehmen halten sollen. Ratlos starrten sie dem ungehobelten Kerl nach, der sie so brüsk hatte stehen lassen, bevor sie dem dunkelhaarigen Mädchen einen fragenden Blick zuwarfen.
Franziska kehrte die Handflächen nach oben und zuckte entschuldigend die Schultern. Dann zeigte sie mit dem Daumen in Leifs Richtung, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und verdrehte theatralisch die Augen.
Das Paar nickte. Die Pantomime des Mädchens ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Kapitel 28
»Und er ist einfach weggelaufen?«, fragte Alexander verwundert, während er auf wackligen Beinen die erste Kurve nahm.
»Ja, er hat weder Hallo noch Auf Wiedersehen gesagt und ist ab durch die Mitte. Meine Mutter war stocksauer.« Franziska ruderte mit den Armen und wäre fast hintenübergekippt, hätte Alexander sie nicht im letzten Moment festgehalten.
Sie hatten sich an der Eislaufbahn am Studenterlunden getroffen, die im Zentrum von Oslo zwischen dem Parlament und dem Nationaltheater lag. Obwohl Weihnachten längst vorbei war, schepperte schon das zweite Mal »Last Christmas« aus den Lautsprechern.
»Und wie hat Leif das später erklärt?«
»Er hat gesagt, dass er diese Leute von früher kennt. Dass sie einem keine Ruhe lassen,
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