Tatsache Evolution
evolutionäre Entwicklungsbiologie (Evo-Devo, s. Gilbert 2003, Carroll 2006), Populationsgenetik, Stammbaum-Analytik (molekulare Phylogenetik auf Grundlage von DNA-Sequenzen, s. Kapitel 9), Teilaspekte der Geologie, Geophysik und die Paläobiologie (Plattentektonik, Umweltkatastrophen als Selektionsfaktoren, s. Kapitel 6, 7 und 10) (diese Liste ist nicht vollständig). Die Soziobiologie ist heute ein integraler Bestandteil der Evolutionsforschung. Da in diesem Buch diese spannende Thematik nicht näher behandelt wird, wollen wir abschließend zwei Aspekte aus der Soziobiologie (Wissenschaft vom Sozialleben der Tiere und dessen evolutionäre Wurzeln) kennenlernen (Voland 2000).
|91| Im letzten Kapitel seines Hauptwerks hob Darwin (1859/1872) hervor, die Existenz steriler Arbeiterinnen in Ameisen-Kolonien seien mit seiner Theorie der Abstammung mit Abänderung durch Variation und natürliche Selektion kaum vereinbar. Warum verzichten Arbeiterinnen auf eigene Nachkommen und verhalten sich somit uneigennützig (altruistisch )? Zunächst muss betont werden, dass Darwin (1859/1872) das Phänomen des Eltern-Altruismus klar erkannt und beschrieben hatte: Im »Daseinswettbewerb« geht es in erster Linie um das Hinterlassen eigener Nachkommen. Diese haben z. B. bei optimaler Brutpflege bessere Überlebenschancen . Aus diesem Grund steht das von Darwin und Wallace formulierte Selektionsprinzip (Abb. 3.4) nicht grundsätzlich im Widerspruch zum Altruismus. Der Ameisenstaat funktioniert allerdings ganz anders. So leben z. B. in den bis zu 3 m großen, aus Fichtennadeln und anderen Kleinteilen zusammengesetzten Nestern der Roten Waldameise (Abb. 3.9) zahlreiche fruchtbare Königinnen, unzählige sterile Arbeiterinnen sowie geschlechtsreife Männchen, die nach der Begattung der Königinnen keine Funktion mehr erfüllen und dann weggejagt werden. Das selbstlose Verhalten der auf eigene Nachkommen verzichtenden »fleißigen« Arbeiterinnen des Insektenstaats konnte der Evolutionstheoretiker William D. Hamilton (1936 – 2000) über die von ihm 1964 ausformulierte
Theorie der Verwandtenselektion
(kin selection theory) schlüssig erklären (Hamilton 1972).
Die Darwinsche
Individual-fitness
(Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg ) bezieht sich auf einen Einzel-Organismus in der Population, während Hamiltons
Gesamtfitness
(inclusive fitness ) die Nachkommenzahl des Einzelwesens plus diejenige enger Verwandter umfasst. Anders formuliert: Der genetische Erfolg des Lebewesens (Zahl der Gene, die in die nächste Generation gebracht werden) setzt sich aus der direkten und indirekten fitness zusammen (Gene eigener Kinder plus Erbanlagen der nächsten Verwandten). Wegen der speziellen Vererbungsmechanismen im Insektenstaat (Haplodiploidie) sind die Arbeiterinnen mit ihren Schwestern zu 75 % verwandt – mit eigenen Nachkommen würden sie nach Paarung mit einem Männchen nur 50 % ihrer Gene weitergeben (Verwandtschaftsgrad zwischen |92| Eltern/Nachkommen bzw. Geschwistern, s. Kapitel 2, Abb. 2.5, S. 66). Daher ziehen die Arbeiterinnen »anscheinend selbstlos« ihre eigenen Geschwister auf (d. h. die weiblichen Kinder der Königin) und verzichten auf eigene (leibliche) Töchter . Auf Grundlage derartiger Studien wissen wir, dass – im Gegensatz zu Darwins ursprünglicher Annahme – die Individuen in Tierpopulationen kein reines »egoistisches Einzelinteresse « verfolgen, sondern in ein komplexes Verwandten-Netzwerk eingebettet sind. Anders formuliert: Tiere verhalten sich je nach Verwandtschaftsgrad »egoistisch« oder »altruistisch«.
Abb. 3.9: Selbstloses (altruistisches) Verhalten bei Staaten bildenden Insekten (Rote Waldameise,
Formica rufa
). Geflügeltes Weibchen (Königin), ungeflügeltes Weibchen (Arbeiterin) und geflügeltes Männchen. Im abgebildeten Nestausschnitt sind die nicht fortpflanzungsfähigen (sterilen) Arbeiterinnen mit der Pflege der Eier, Puppen und Larven, die ausschließlich von den Königinnen abstammen, beschäftigt. Charles Darwin konnte dieses Phänomen nicht schlüssig deuten. William Hamilton lieferte mit seiner Theorie der Verwandtenselektion eine gut belegte Erklärung.
Obwohl Darwin (1859/1872) den Daseinswettbewerb (Struggle For Life) innerhalb der Individuen einer Population auf Grundlage der begrenzten Umwelt-Ressourcen immer wieder |93| hervorgehoben hatte, diskutierte er ausführlich den Wettbewerb zwischen verschiedenen Arten. Nach Darwin soll eine überlegene Spezies eine weniger erfolgreiche Art
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