Tatsache Evolution
war Wissenschaftler »von Amts wegen«. Die Biologen hatten sich bereits als junge Männer auf ein Spezialgebiet »eingeschossen«: Viets war Spezialist auf dem Gebiet der Wassermilbenkunde (Hydracarinologie ), Frömming
der
Fachmann für einheimische Land und Wasserschnecken (Weichtierkunde, Malakologie). Die prächtigen Bücher zur Systematik und Biologie der Wassermilben (bzw. Schnecken) dieser produktiven Außenseiter-Biologen (Viets 1955/1956; Frömming 1956) beeindruckten mich Ende der 1970er-Jahre derart, dass diese Forscher zu meinen Vorbildern wurden. Ähnlich wie Charles Darwin (so dachte ich damals) seien diese »Nebenfach-Freizeitforscher« zu bedeutenden Fachmännern ihrer Spezialdisziplin herangereift, deren Werke Bestand haben würden. Besonders beeindruckt hatte mich damals, dass der Beitrag von K. Viets zur
Fauna von
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Deutschland
(P. Bromer, Hg., Heidelberg 1959), die Wassermilben beschreibend, nahezu ausschließlich auf eigene Literaturstellen basierte: Dieser Spezialist war somit eine Fachautorität ersten Ranges, dem in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen u. a. ein Ehrendoktortitel verliehen wurde.
Charles Darwin beschäftigte sich in den Jahren 1846 bis 1854 nahezu ausschließlich mit der Abfassung seiner zweibändigen Monographie der Rankenfußkrebse (Cirripedia) (Abb. 3.11) – diese acht »Barnacle-Years« waren weitgehend dem Studium der Systematik einer speziellen Tiergruppe gewidmet (Darwin 1851/1854). Wie K. Viets und E. Frömming war C. Darwin, ohne institutionelle Anbindung, zum führenden Spezialisten einer kleinen, wenig spektakulären Tiergruppe geworden – hier enden jedoch die Parallelen.
Im Gegensatz zu Viets und Frömming, die zeitlebens als Naturforscher ausschließlich ihren Spezialstudien nachgegangen sind und im Wesentlichen Einzel-Fakten (Artbeschreibungen |97| , Spezies-Listen, Daten zur Biologie ihrer Tiergruppe) erarbeitet haben (Viets 1955/1956; Frömming 1956), nutzte Darwin (1851/1854) sein spezielles Wissen auf dem Gebiet der »Cirripediologie« u. a. Fach-Disziplinen dazu,
allgemeine
Schlussfolgerungen zu ziehen. Wissenschaftshistoriker gehen heute davon aus, dass Darwins Thesen zu den Verwandtschaftsverhältnissen und somit der Stammesgeschichte (Phylogenese ) der Organismen in entscheidendem Maße durch die Rankenfußkrebs-Studien vorangebracht worden sind (s. Kapitel 1). Durch Interpretation zahlreicher Einzelbefunde erstellte Darwin Hypothesen bzw. Theorien, die biologische Zusammenhänge beschreiben bzw. erklären und somit ein Bild »vom ganzen Naturgeschehen« lieferten. In seinem »Artenbuch« (Abb. 3.1) zieht sich das Wort »facts« (d. h. Fakten, Tatsachen) wie ein roter Faden durch den Text: Diese und jene Fakten werden vom Autor akribisch aufgelistet, beschrieben und dann interpretiert (Hypothesen- und Theorienbildung). Charles Darwin war somit einerseits ein vielseitiger
Spezialist
, auf der anderen Seite aber auch ein
Generalist
der Biologie: Er entwarf ein umfassendes Grundschema zu den graduellen Veränderungen in der belebten Natur entlang der Zeitachse und wurde somit zum Urvater einer neuen »Lebenslehre«, die zu einer zentralen Wissenschaftsdisziplin werden sollte (Evolutionsbiologie).
Abb. 3.11: Entenmuscheln (
Lepas anatifera
), auf einem Stück Bimsstein festsitzend . Diese zu den Rankenfüßern (Cirripedia) zählenden Krebse wurden von Charles Darwin intensiv erforscht. Darwins Resultate sind in seiner zweibändigen Monographie der Unterklasse der Cirripedia zusammengefasst (Darwin 1851/1854) (A). Erst 1959 wurde entdeckt, dass diese sessilen Meereskrebse relativ große Beuteorganismen, wie z. B.
Artemia-
Krebschen (Pfeil) einfangen und fressen (B) (nach Howard, G. K. & Scott, H. C.:
Science
129, 717 – 718, 1959).
|97| Alfred R. Wallace hat Charles Darwin einmal als den »Newton der Biologie« bezeichnet. Ist dieser Vergleich gerechtfertigt? Darwins Werke haben letztendlich dazu geführt, dass sich die im 19. Jahrhundert wenig geachtete »Wissenschaft vom Käfer und Pflanzensammeln« von der rein beschreibend-sortierenden Ebene zu einer erklärenden, die großen Zusammenhänge aufzeigenden Naturwissenschaft entwickeln konnte. Anders formuliert : Die Biologie als ausschließlich einzelne Phänomene beschreibende Disziplin wurde von Darwin mit einem »vereinigenden Prinzip« oder »Rahmenthema« ausgestattet. Das Faktum der Abstammung mit Abänderung (Deszendenz mit Modifikation , d. h. Evolution) sowie eine
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