Tatsache Evolution
verdrängen und dann deren Lebensraum übernehmen. Aus diesem Darwinschen »Art 1/Art 2-Konkurrenzprinzip« haben die Urväter der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie), wie z. B. Konrad Lorenz (1903 – 1989), geschlossen, Individuen würden sich »zum Wohle ihrer Art« verhalten. Die Selektion würde somit primär die Gruppe (Population) erfassen. Diese »Darwin-Lorenzsche « Sicht der natürlichen Selektion (Lorenz 1965) hat z. B. noch mein akademischer Lehrer auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie , der Zoologe G. Osche (1972), während meiner Studienzeit in Freiburg vertreten.
Detaillierte Studien zum Sozialverhalten verschiedenster Tierarten haben im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einer völligen Revision unserer Sicht vom tierischen (und menschlichen) Verhalten geführt, die im Rahmen der Soziobiologie erforscht wird (Voland 2000). Wir wissen heute, dass die natürliche Selektion das Individuum (d. h. den einzelnen Phänotyp) erfasst. Die Mitglieder einer Spezies verhalten sich derart, dass Kopien
der eigenen Gene
in möglichst großer Zahl an die nächste Generation weitergegeben werden, und das oft zum Nachteil der Artgenossen (Prinzip des egoistischen Gens, Dawkins 1986). Tiere und Menschen im Naturzustand wurden im Verlauf der Stammesentwicklung daraufhin »selektioniert«, den eigenen Lebenszeit-Fortpflanzungserfolg (bzw. den der Verwandtschaftsgruppe ) zu maximieren, mit der Konsequenz, dass das Leben wilder Tiere (und anderer frei lebender Organismen) voller Konflikte ist (Rivalitätskämpfe mit Todesfolgen, Geschwister-Konkurrenz , Mutter-Kind-Streitereien usw.). Im Lichte dieser
evolutionären Verhaltensforschung
(Kutschera 2008 a) können wir z. B. die Kindestötung (Infantizid) im Tierreich als für das Individuum sinnvoll verstehen (Abb. 3.10).
So töten z. B. Löwenmännchen bei der Übernahme einer Weibchengruppe die noch von den Müttern abhängigen fremden Kinder. Über diese drastische Maßnahme werden die Löwenweibchen bald wieder fortpflanzungsbereit, so dass der neue Rudel-Herrscher dann gezielt seine eigenen Gene in maximaler |94| Zahl in die nächste Löwengeneration einbringen kann (Voland 2000). Als Nebeneffekt dieser »Kindestötung im Tierreich« wird gleich noch die Nachkommenschaft eines Konkurrenten eliminiert, ein Phänomen, das auch bei Süßwasseregeln dokumentiert werden konnte (Theorie der intraspezifischen Interferenz, s. Kutschera und Wirtz 2001). Darwin und Lorenz hätten (bzw. haben) diese Beobachtungen als »abnormales Verhalten« gedeutet. Obwohl sie diesbezüglich noch nicht auf dem Wissensstand unserer Zeit waren, haben beide Naturforscher dennoch jeweils ein zentrales Gebiet der Biowissenschaften mitbegründet (Evolutionsbiologie, Darwin 1859/1872 bzw. Ethologie, Lorenz 1965).
Abb. 3.10: Kindestötung beim Serengeti-Löwen (
Panthera leo
). Die Zeichnung zeigt einen männlichen und einen weiblichen Löwen in der afrikanischen Savanne. Auf dem Foto ist ein männlicher Löwe abgebildet, der ein Jungtier eines fremden Vaters getötet hat (Infantizid) (nach Sachser, N.:
Biologen heute
462/4, 2 – 7, 2002).
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|95| Darwin als Spezialist und Generalist
Warum diskutieren wir heute noch immer die Hypothesen und Theorien des 1809 geborenen britischen Naturforschers Charles Darwin und ignorieren andererseits aber die Leistungen anderer großer Wissenschaftler seiner Zeit? Diese Frage lässt sich rückblickend wie folgt beantworten. Darwin war einerseits
Spezialist
(und das auf vielen Gebieten), andererseits aber auch ein
Generalist
. Diesen Sachverhalt möchte ich anhand einer Episode aus meinem Leben als Biologe verdeutlichen.
Als 22-jähriger Student hatte ich mich über eine Zufalls-Entdeckung auf die Systematik und Evolution im Süßwasser lebender Ringelwürmer spezialisiert (aquatische Anneliden, Schwerpunkt Egel, Hirudinea; s. Kutschera und Wirtz 2001). Als Autor erster wissenschaftlicher Publikationen zu weiteren Forschungen motiviert, träumte ich damals davon, einmal einer der »Außenseiter-Fachleute« auf dem Gebiet der Egelkunde (Hirudineologie ) zu werden, und dies u. a. aus dem folgenden Grund.
Beim Studium der Fachliteratur zur Süßwasserbiologie (Limnologie) stieß ich auf die Werke der Forscher Karl Viets (1882 – 1961) und Ewald Frömming (1899 – 1960). Der Erstgenannte war als Lehrer tätig, der Zweite arbeitete als Techniker in einem Industrie-Unternehmen; beide betrieben ihre Forschungen während der Freizeit. Keiner
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