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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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es war eine innige und böse Verbundenheit zwischen ihnen und ihm, und das beste wäre es, mit einem Schrei zu erwachen. Ezra hatte fuchsrotes kurzgeschnittenes Haar. Seine kleine Stirn krauste sich unter der fuchsroten Kappe. Er hatte das Gefühl, zu Hause in Santa Ana im Bett zu liegen. Der Stille Ozean brandete mit eintönigem Rauschen gegen den Strand. Ezra war krank. In Europa war Krieg. Europa war ein ferner Erdteil. Es war das Land der armen Alten. Es war der Erdteil der grausamen Sagen. Es gab da ein böses Land, und in dem bösen Land gab es einen bösen Riesen HITLER AGGRESSOR . Auch Amerika war im Krieg. Amerika kämpfte gegen den bösen Riesen. Amerika war großmütig. Es kämpfte für die Menschenrechte. Was waren das für Rechte? Besaß Ezra sie? Hatte er das Recht, seine Suppe nicht zu essen, seine Feinde, die Kinder vom Nordstrand, zu töten, dem Vater zu widersprechen? Die Mutter saß an seinem Bett. Henriette sprach deutsch mit ihm. Er verstand die Sprache nicht, und er verstand sie doch. Dieses Deutsch war die Muttersprache, das war wörtlich zu nehmen, es war die Sprache der Mutter, älter, geheimnisvoller als das übliche und im Hause allein schickliche, das alltägliche Amerikanisch, und die Mutter weinte, im Kinderzimmer weinte sie, sie weinte seltsamen Menschen nach, Verschwundenen, Geraubten, Entführten, Geschlachteten, und der jüdisch-preußische Oberregierungsrat und sein stilles sanftes Sarah-Gretchen, abgeführt IM ZUGE DER LIQUIDIERUNG , wurden am Betteines kranken Kindes in Santa Ana, Californien, zu Gestalten aus Grimms deutschen Kinder- und Hausmärchen, genau so wahr, genau so lieb, genau so traurig wie König Drosselbart, wie Däumling und Großmütterchen und der Wolf, und so unheimlich war's wie die Geschichte vom Machandelbaum. Henriette lehrte ihren Jungen die Muttersprache, indem sie ihm deutsche Märchen vorlas, aber wenn sie dachte, daß er schlafe, dann erzählte sie für sich, seinen Fieberschlaf bewachend und um ihn in Sorge, das Märchen von den Großeltern, und wie das Summen der neuesten Sprachlehrgrammophone, die einen im Schlaf die fremden Laute lehren, senkten sich die deutschen Leidworte, die Murmel- und Tränenworte Ezra ins Gemüt. Nun war er im Dickicht, im unheimlichen Zauberwald des Traumes und des Märchens - der Parkplatz war der Wald, die Stadt war das Dickicht: der Luftangriff hatte nichts genützt, Ezra mußte am Boden den Kampf bestehen. Heinz hatte lange blonde Haare, einen verwilderten Schopf. Er sah mit Mißfallen den kurzen neumodischen amerikanischen Haarschnitt, Ezras revidierte Barrasfrisur. Er dachte ›der ist hochnäsig, dem will ich's geben‹. Ezra fragte: »Wollen Sie den Hund verkaufen?« Aus sprachlicher Unsicherheit fand er es angebracht, Sie statt du zu sagen. Heinz empfing das Sie als neuen Beweis des Hochmuts dieses fremden Jungen, der zu Recht in dem interessanten Auto saß (nicht wie Heinz im Auto Washingtons in fragwürdiger Position), es war eine Zurückweisung, ein In-Distanz-Halten (vielleicht, vielleicht war das Sie wirklich als Schranke gedacht, Schutzwehr für Ezra, und nicht sprachliche Verwirrung), und er, Heinz, gebrauchte es nun auch, dies Sie, und die beiden Elfjährigen, die beiden in der Kriegsfurcht gezeugten Kinder, unterhielten sich steif wie altfränkische Erwachsene. »Wollen Sie den Hund kaufen?« sagte Heinz. Er wollte den Hund garnicht verkaufen. Es war auch nicht sein Hund. Der Hund gehörte der Kinderbande. Aber vielleicht konnte man ihn doch verkaufen. Man mußte im Gesprächbleiben. Heinz hatte die Empfindung, daß sich hier etwas ergeben würde. Er wußte nicht was, aber etwas würde sich ergeben. Ezra war garnicht darauf aus, den Hund zu kaufen. Für eine Weile hatte er zwar das Gefühl, er müsse den Hund retten. Aber dann war die Hunderettung schon vergessen, war nicht das Wesentliche, das Wesentliche war das Gespräch und etwas, was sich zeigen würde. Man sah es noch nicht. Der Traum war noch nicht soweit. Der Traum fing erst an. Ezra sagte: »Ich bin Jude.« Er war Katholik. Er war wie Christopher katholisch getauft und erhielt katholischen Religionsunterricht. Aber es gehörte zum Stil des Märchens, daß er Jude war. Er schaute Heinz erwartungsvoll an. Heinz wußte mit Ezras Bekenntnis nichts anzufangen. Es verblüffte ihn als undurchsichtiger Zug des anderen. Es hätte ihn auch verblüfft, wenn Ezra erzählt hätte, er sei Indianer. Wollte er sich interessant machen? Juden? Das waren Händler,

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