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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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Bomben fielen, hockte er im Ad1on-Diplomaten-Bunker. Das war ein Bunker für feine Leute. Landser auf Urlaub wurden nicht rein-gelassen. Der Bunker hatte zwei Etagen. Alexander saß in der zweiten: der Krieg rückte fern. Nach dem Angriff räumten Hitler jungen auf der Straße den Schutt weg. Im Schutt gruben die jungen nach Verschütteten. Sie baten Alexander um ein Autogramm. Sie baten Alexander den Helden, Alexander den Tollkühnen. Man verwechselte Alexander mit seinem Schatten. Es machte ihn schwindlig. Wer war er? Ein draufgängerisch - treu - sentimental - kühner - Helden - Potenter? Er hatte es satt. Er war müde. Er war ausgeheldet. Er war wie ein ausgenommener Kapaun: fett und hohl. Sein Gesicht trug den Ausdruck der Dummheit: es war abgeschminkt, es war leer. Sein Mund stand offen, und durch das blendendweiße Gebiß der Jacketkronen drang ein Schnarchen aus Dumpfheit und Übelkeit, aus träger Verdauung und mattem Stoffwechsel. Hundertsechzig PfundMenschenfleisch lagen auf dem Sofa, noch hingen sie nicht am Haken des Metzgers, aber für den Augenblick, da der Witz abgeschaltet war, der Strom der Geistreichelei und des Witzeins, der in diesem Leib die Funktionen der Seele übernommen hatte, war Alexander nicht mehr als Metzgerfleisch, und davon hundertsechzig Pfund. Hillegonda kam in das Zimmer getrippelt. Sie hatte das Auto mit Alexander vorfahren hören, und für eine Weile brachte sie den Mut auf, sich von Emmis Hand zu lösen und allein in die Welt voll Sünde zu gehen. Hillegonda wollte Alexander fragen, ob Gott wirklich böse sei, ob Gott auf Hillegonda, auf Alexander und auf Messalina böse sei. Auf Emmi sei Gott nicht böse. Aber vielleicht war es eine Lüge von Emmi. »Pappi, darf Emmilein lügen?« Das Kind erhielt keine Antwort. Vielleicht war Gott gerade auf Emmi böse. Emmi war immer vorgeladen bei Gott. Schon ganz früh, wenn der Tag dämmerte, mußte sie in Gottes dunkle Gerichtssäle gehen. Alexander war auch mal vorgeladen. Zur Steuer war er vorgeladen gewesen. Er hatte Angst gehabt. Er hatte gerufen »die Rechnung stimmt ja nicht!« Stimmte vielleicht Emmis Rechnung nicht? Das Kind quälte sich. Es hätte mit Gott gerne besser gestanden. Es konnte doch sein, daß Gottes Verstimmung gar nicht Hillegonda galt. Aber der Vater sagte nichts. Er lag da wie tot. Nur das Röcheln, das Schnarchen, das aus dem offenen Mund drang, zeigte, daß er lebte. Hillegonda wurde von Emmi gerufen. Sie mußte zurück an Emmis FI and. Emmi war wieder vorgeladen. Sie mußte schon wieder niederknien, auf Fliesen knien, auf kalten harten Fliesen, sie mußte sich vor Gott in den Staub beugen.
    Die Heiliggeistkirche gab dem Heiliggeistplatz, dem Heiliggeistspital und der Heiliggeistwirtschaft den Namen. Die Wirtschaft war verrufen. Wo waren sie hingeraten? Als Josef noch klein war, hatten sich Marktleute in der Wirtschaft getroffen. Die Marktleute kamen mit Pferd undWagen in die Stadt gefahren, und Josef half ihnen beim Aus-und Einspannen. Damals war das alte Viertel um die Heiliggeistkirche das Herz der Stadt gewesen. Später hatte sich das Stadtzentrum verlagert. Die alte Gegend starb. Der Markt starb. Der Platz, die Häuser, das Spital, die Kirche wurden im Krieg bombardiert, als sie schon lange gestorben waren. Ruinen blieben. Niemals würde jemand das Geld haben, diese Ruinen wieder herzurichten. Die Gegend wurde ein Schlupfwinkel. Die kleinen Diebe trafen sich hier, die schäbigen Zuhälter, die billigen Dirnen. Wo waren sie hingeraten? Es war Josefs Erzheimat, sein Spielviertel, sein Kinderarbeitsviertel, die Kirche seiner ersten Kommunion. Wo waren sie hingeraten? Sie saßen in der Wirtschaft. Die Wirtschaft war voll, lärmvoll; eine schwere warme Luft aus Dunst, Gestank und Rauch füllte den Raum, blähte sich im Raum wie Gas in einem halbschlaffen Ballon. Wo waren die Marktleute geblieben? Die Marktleute waren tot. Sie lagen in ihren Gräbern auf ihren Dorffriedhöfen neben den weißen Kirchen. Ihre Pferde, die Josef schirrte, hatte der Schinder geholt. Josef und Odysseus tranken Schnaps. Odysseus nannte den Schnaps Gin. Der Schnaps war Steinhäger. Es war ein fuseliger verfälschter Steinhäger. Im Musikkoffer auf Josefs Schoß sang ein Chor she-was-a-nice-girl. Wie kamen sie hierher? Was wollten sie hier? Der kleine Josef hatte um Milch gebettelt. Die Bäuerin hatte ihm Milch in den Krug gefüllt. Josef war über den Platz gelaufen und hingefallen. Der Krug war zerbrochen. Die Milch war verschüttet.

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