Taubenkrieg
Verzweiflung und Schuld.
Heide traute sich nicht mehr aus dem Haus. Nikola Kellerbach war schwer verletzt worden, nachdem sie ihr diesen Umschlag überreicht hatte. Und der Polizist am alten Clubhaus war auch noch nicht aus dem Krankenhaus entlassen worden. Beide waren in die Schneise der Verwüstung geraten, die Heide wie ein Tornado in die Welt geschnitzt hatte.
An der Wand tickte die Küchenuhr nicht mehr, die Batterie war leer. Die Vorräte im Kühlschrank gingen zur Neige. Die Luft in ihrem Appartement war abgestanden, laff, dick, vergiftet. Am liebsten würde sie einfach das Atmen einstellen.
Doch das ging nicht. Schließlich war sie ferngesteuert. Irgendwo bediente Leo noch immer Knöpfchen, die sie davon abhielten durchzudrehen, mit dem Kopf gegen die Rauhfasertapete zu rennen oder vom Fenster aus auf die Straße zu fliegen.
Ihr Telefon klingelte. Das hatte es vorhin schon getan und auch noch vor dem Vorhin. Sie nahm nicht ab. Aber es klingelte trotzdem.
Auf dem Bett saß der Teddy und schaute sie mit seinen himmelblauen |212| Plastikaugen an, als wollte er flehen, dass dieses Klingeln endlich aufhören solle. Er hielt in seinen Plüschtatzen dieses Herz.
Ich hab dich lieb.
Baby, du bist wunderbar. Du bist die Beste. Du bist die Einzige.
Dafür hatte sie es getan. Für diese verfluchten Worte, die sie ohnehin niemals wieder hören würde. Wenn Leo nicht mehr da war, dann konnte er sie nicht mehr lieben. Und wenn er sie nicht mehr liebte, war der Rest ohnehin scheißegal.
Das Telefon nervte. Unbekannte Nummer. Der Teddy brummte: Geh endlich dran!
Nein, sie wollte Musik hören. Die CD lag seit Tagen in ihrer Anlage. Immer wählte sie das Lied, bei dem Leo geweint hatte.
»Would?«
Er musste geahnt haben, dass es ein Abschied war. Sonst hätte er seine Gefühle im Griff gehabt.
Know me broken by my master
teach thee on child of love hereafter
Into the flood again
same old trip it was back then
so I made a big mistake
try to see it once my way …
Sie krabbelte auf allen vieren über den Flokati und fischte die C D-Hülle vom Regal. Ein altes Album.
Alice in Chains*
hieß die Band – Leos Lieblingsband.
Alice in Ketten
– statt im Wunderland. Leo hatte mal etwas über den Sänger erzählt, der sich als Jugendlicher auf die Suche nach seinem verschwundenen Vater gemacht hat. Genau kriegte Heide die Geschichte nicht mehr zusammen. Sie setzte sich im Schneidersitz vor das Sofa und öffnete die Plastikbox, suchte nach dem Songtext, denn wenn dieses Lied Leo zum Weinen gebracht hatte, dann musste sie mehr darüber erfahren, was es aussagte, was es für ihn bedeutet haben könnte.
Fast hätte sie das kleine Foto übersehen, das beim Öffnen |213| des Inlets herausrutschte und zu Boden segelte. Sie bückte sich, fischte das Bild unter dem Wohnzimmerschrank hervor, rieb den Staub weg, der sich daraufgelegt hatte. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte eine schmale Frau in einem Krankenbett. Die beiden winzigen nackten Köpfchen links und rechts in ihren Armen waren kaum zu erkennen. Heide hatte keine Ahnung, wer das war und warum das Foto ausgerechnet in diesem C D-Heftchen deponiert war. Sie drehte das Bild um, auf der Rückseite war nur eine Jahreszahl vermerkt: 1971 – Leos Geburtsjahr.
Sollte dies eines seiner ersten Fotos sein? Sie kannte Leos Mutter nicht, sie war vor einigen Jahren gestorben, und Heide hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich war dies ein Schnappschuss nach der Entbindung. Aber wer war das andere Baby? Wahrscheinlich war die Fotografierte eine Bekannte oder Verwandte der Kellerbachs und der Abzug durch irgendein Versehen hier hineingerutscht. Das war immerhin möglich. Ja, so musste es gewesen sein. Trotzdem regte es Heide auf, und sie fühlte sich noch elender als zuvor.
Have I gone
and left you here alone …
Ja, er hatte sie allein gelassen. Furchtbar allein.
Heide überlegte. Sie sollte zur Polizei gehen. Sich stellen. Dann hätte der Horror ein Ende.
Vielleicht bekam sie ja mildernde Umstände. Vielleicht war sie ja verrückt. Oder suchtkrank. Süchtig nach der Sicherheit, geliebt zu werden. So etwas gab es.
Sie zog sich die Sommerjacke über das T-Shirt und suchte eine ausgebeulte Leggins im Wäschekorb. Wie eine Vogelscheuche sah sie aus. Sie ließ sich gehen. Seit Montag hatte sie nicht geduscht, ihre blonden Haare schimmerten ölig. Ihr Chef hatte nachgefragt, ob sie ein Attest vorlegen könne, ansonsten gäbe es Probleme. Ihr war es gleich.
|214|
Weitere Kostenlose Bücher