Taubenkrieg
Sie würde jetzt zur Polizei gehen und alles erzählen. Da kam es nicht darauf an, wie sie aussah oder was in ihrer Personalakte stand.
Das Telefon klingelte permanent. Sie drehte die Musik lauter.
If I would, could you?
Wenn ich würde, könntest du?
Vielleicht hatte Leo ihr etwas sagen wollen damals, am letzten Abend. Und sie hatte es nicht verstanden. Weil sie immer nur darauf geachtet hatte, ob sie ihm gefiel und ihn glücklich machte. Immerhin hatte er diesem Tim Beisse gesagt, sie sei die Einzige, auf die er sich verlassen könne. Das hatte Leo gesagt. Wenn ich würde …
Wenn ich noch leben würde? Hatte er das gemeint? Wenn ich leben würde, könntest du das glauben?
Auf einmal war Heide ganz nervös. Klar, sie hatte in den Zeitungen gelesen, dass es diese Blutlache gab, dass es Leos DNA gewesen war und die Menge nur eine Schlussfolgerung zuließ. Und doch glaubte, nein, wusste sie ab genau diesem Moment, dass diese Laborergebnisse nichts bedeuteten. Es gab keine Leiche. Es gab keinen toten Körper, der irgendetwas beweisen konnte. Leo lebte. Alles war gut.
Nicht logisch, nicht erklärbar, aber gut. Nein, sie war nicht dabei, den Verstand zu verlieren. Im Gegenteil, endlich wurde sie vernünftig.
Das Telefon. Es war stumm. Ausgerechnet jetzt. Was, wenn Leo die ganze Zeit versucht hatte, sie zu erreichen? Und sie dumme Pute hatte nicht abgenommen. Erwartungsvoll setzte sie sich vor das Gerät. Nun mach schon! Klingel!
Dieser Tim Beisse muss es auch gewusst haben, dachte sie. Als sie es nicht geschafft hatte, über Leo in der Vergangenheit zu reden, war ihm doch dieser Satz herausgerutscht: »Dann lassen wir es einfach bei der Gegenwart, oder nicht?« Das war |215| eindeutig. Leo war nicht Vergangenheit. Warum war ihr das nicht gleich aufgefallen?
In den Zeitungen und im Radio spekulierten sie, dass hier ein Rockerkrieg tobte, irgendwas mit einem Bordell, mit Spitzeln und so. Die hatten alle keine Ahnung. Sie wusste es besser. Eigentlich ging es um eine Familienangelegenheit. Irgendetwas stimmte bei den Kellerbachs nicht. Und als Nikola eingeweiht worden war, ist sie überfallen worden. Das hatte mit den
Devil Doves
nichts zu tun, ganz bestimmt nicht.
Leo hatte das Thema Familie immer tunlichst vermieden. Natürlich wusste Heide, dass die Kellerbachs reich waren, gebildet, auch ein bisschen eingebildet. Sie lebten in einem todschicken Haus und trugen – bis auf Leo – ziemlich edle Klamotten. Der Vater war streng und erfolgreich, die Mutter, als sie noch lebte, eine stille Frau mit Herz. Bruder und Schwester waren beide gedrängt worden, Jura zu studieren und in die Fußstapfen des Vaters und Großvaters zu treten. Früher hatte Leo sich in der FDJ ausgelebt, hatte eifrig das blaue Hemd getragen, dann nach der Wende dumm aus der Wäsche geguckt und sich einem Motorradclub angeschlossen. Sehr zum Missfallen seines Vaters. Das hatte er ihr irgendwann mal erzählt, so ganz nebenbei. Es hatte nicht geklungen, als sei da etwas besonders Geheimnisvolles dabei. Okay, Leo und sein Vater hatten nicht das beste Verhältnis. Aber war das nicht normal? Musste das zu so viel Chaos führen?
Hätte Heide doch nur diesem seltsamen Tim Beisse all diese Fragen gestellt! Denn er schien mehr zu wissen. Aber wahrscheinlich hätte er eh keine Antwort gegeben. Oder war sie einfach nicht hartnäckig genug gewesen?
Das wollte sie ändern, sofort. Es kam ihr vor, als sei ihr Blut mit Kohlensäure versetzt worden, alles in ihr sprudelte wie verrückt. Sie machte sich jetzt selbst auf den Weg, statt in ihrer Wohnung abzuwarten und elend zu Grunde zu gehen. Zuerst |216| wollte sie mehr über den Inhalt des Päckchens erfahren, das für Nikola bestimmt gewesen war. Der alte Kellerbach schleppte womöglich Geheimnisse mit sich herum.
Sie würde dort hingehen. Dem Vater ihres Liebsten einen Besuch abstatten.
Ja. Das war eine gute Idee.
Sie bürstete ihr Haar und band es zu einem Zopf, die Lippen zog sie mit einem schimmernden Gloss nach. Schön war sie trotzdem nicht, dazu hatten die letzten Tage sie zu sehr gequält. Aber sie konnte sich endlich wieder ertragen.
Dann öffnete sie schwungvoll die Tür. Im Treppenhaus brannte kein Licht. Als sie den Schalter betätigen wollte, legte sich eine Hand auf die ihre. Eine warme Hand, sanft und vertraut. Sie erschrak in keiner Weise. Stattdessen lächelte sie das erste Mal seit Tagen.
Sie hatte recht. Sie war nicht verrückt. Sie hatte recht!
»Heide«, sagte er. »Darf ich
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