Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
Weiber aber, die sie umgaben, ergriffen die Flucht; und er hob die Prinzessin ohne Widerstand auf und trug sie in das Gebirge von Kaf, wo sein Nest war. Vogel Greif war ein Weibchen; so gab er ihr denn alle Nächte die Brust; und seine Milch war so gut, daß sie bald entwöhnt werden konnte. Schließlich erfreute sie sich einer sehr guten Gesundheit und wurde ebenso schön wie groß; Vogel Greif selbst scheute keine Kosten, um ihr eine angemessene Bildung zu geben, sei es, daß er sie lesen und schreiben lehrte, sei es, daß er sich mit ihr über die Bücher unterhielt, welche er ihr zu lesen mitgebracht hatte. Die Prinzessin, die ihn wie eine Mutter verehrte, gehorchte ihm blind und beschäftigte sich alle Tage in der Einsamkeit seines Nestes; denn Vogel Greif ging unaufhörlich jeden Morgen, um Sulaiman die Dienste anzubieten, die der Fürst von ihm fordern konnte. In Wahrheit kehrte er alle Abende zurück, um mit seiner kleinen, lieben Tochter zu essen und sich mit ihr zu unterhalten. Sie kam schließlich in das heiratsfähige Alter; und in dieser Zeit stieg der Sohn des Königs vom Morgenlande auf den Thron, den ihm sein Vater nach seinem Tode überlassen hatte.
Dieser Fürst war so für die Jagd eingenommen, daß er keinen Tag verstreichen ließ, ohne solchen Vergnügungen nachzugehen; doch schließlich langweilte es ihn, immer in denselben Wäldern auf dieselben Tiere Jagd zu machen, und er sprach zu seinen Wesiren: ›Wir wollen uns einschiffen, um in entfernten Gegenden zu jagen, die uns noch unbekannt sind; während unserer Abwesenheit lassen wir dem Lande hier Zeit, sich wieder mit Getier zu bevölkern.‹ Die Wesire antworteten ihm:
›O Fürst, es steht dir an, uns Befehle zu geben, und uns an, sie auszuführen!‹ und ließen alsobald kleine Schiffe herrichten, um möglichst leicht an den Küsten zu landen. Der junge König nun stieg mit seinen Wesiren und seinem Hofe zu Schiff und segelte fort. Da er kein bestimmtes Ziel hatte, so war ihm jeder Wind recht. Nachdem er auf mehreren Inseln gejagt, bei denen seine Schiffe Anker geworfen hatten, erhob sich ein so gewaltiges Unwetter, daß alle seine Schiffe zerschellten oder getrennt wurden; doch mit Gottes Fürsorge kam ein einziges Schiff, das den Fürsten barg, am Fuße des Gebirges von Kaf an. Einige seiner Hauptleute stiegen mit ihm ans Land und waren sehr verwundert, als sie es unbewohnt fanden und nur schreckliche und steile Gebirge antrafen. Indessen schickten sie sich trotz der Dürftigkeit des Himmelsstrichs zu jagen an. Ohne daß es ihm auffiel, entfernte sich der Fürst von ihnen und verirrte sich. Er drang eine Zeitlang aufs Geratewohl vor; endlich bemerkte er einen Baum, der ihn durch seinen Umfang in Erstaunen setzte; vierhundert Männer hätten ihn nicht umspannen können; seine Höhe stand im gleichen Verhältnisse zu dem Umfange des Stammes; und mit gleichem Erstaunen entdeckte er ein Nest auf diesem Baume. Es hatte mehrere Stockwerke, und seine Ausdehnung überstieg die der größten Schlösser. Und es war aus Balken und Bohlen von Zedern und Sandel und all den Holzarten zusammengefügt, die ein schöner Geruch berühmt macht. Der junge Fürst aber prüfte mit der größten Aufmerksamkeit dieses Wunder von Kunst und Natur, als er durch eine Art Fensteröffnung oder durch einen Zwischenraum, den die Holzbohlen ließen, welche dieses wunderbare Nest bildeten, ein junges, noch wunderbareres weibliches Wesen erblickte. Auch sie entdeckte ihn bald. Einige Augenblicke sahen sie sich an, ohne ein Wort sagen zu können, so erstaunt und entzückt waren sie gleichzeitig. Gott gewährte es, daß sie ihre Sprache verstanden. Der Fürst rief aus: ›O Sonne der Schönheit, was machst du in einer Wohnung, die deiner Reize unwürdig ist!‹
›Ach,‹ sprach sie, ›ich bringe die Tage einsam und die Nacht mit meiner Mutter zu. Sie steht in Sulaimans Diensten‹, fügte sie erklärend hinzu. Der Fürst fiel von einem Erstaunen ins andere, und er war es im Übermaße, als sie ihm sagte, daß ihre Mutter Flügel hätte und daß sich das Gebirge, in dem sie waren, das Gebirge von Kaf nannte, welches so berühmt in der Welt und so wenig besucht ist. Der Fürst ließ sie seinerseits wissen, wie ihn ein glücklicher Zufall zu ihr geführt habe. Während er die junge Prinzessin über sein Schicksal unterrichtete, sagte sie zu sich selbst: ›Dieser junge Mensch ist von meiner Gattung, er gleicht mir. Wie zufrieden wollte ich mit ihm leben. Meine Mutter ist
Weitere Kostenlose Bücher