Tausend weisse Flocken
mein Zimmer gehen."
"Warum kannst du dich nicht im Wohnzimmer mit ihr unterhalten?" warf ihr Vater ein, der wie ein Racheengel dastand.
"Weil es Frauensache ist, Dad!"
"Ach ja? Ich lausche auch nicht." Er deutete auf eine Tür auf der linken Seite. "Ich bin im Arbeitszimmer."
Melanie wartete, bis er verschwunden war, und führte sie dann in einen gemütlich eingerichteten Raum, der durch einen Frühstückstresen mit einer offenen Küche verbunden war. Links und rechts vom Kamin befanden sich Einbauregale, in denen Bücher und verschiedene Dekorationsgegenstände standen: eine Kupfervase, ein Briefbeschwerer und ein kleiner Strauß aus getrockneten Rosen. Besonders erregte jedoch ein gerahmtes Foto Claires Aufmerksamkeit. Es zeigte einen jüngeren, sorgloseren Zachary neben einer lachenden blonden Frau und mit Melanie, die ungefähr drei oder vier war, auf den Schultern.
Im Hintergrund sah man schneebedeckte Berggipfel und einen strahlend blauen Himmel.
Claire verspürte einen Stich und wandte schnell den Blick ab.
Das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, wie die drei auf diesem Foto es vermittelten, hatte sie nie empfunden. Sie hatte nicht eine einzige glückliche Erinnerung an ihre Kindheit.
Claire setzte sich auf die Armlehne des nächsten Sofas und klopfte einladend auf das Kissen neben sich. "Dein Vater hat mir nur fünf Minuten gegeben, Melanie. Also lass uns keine Zeit verschwenden. "
Misstrauisch nahm Melanie neben ihr Platz. "Sie müssen mir nichts erklären. Ich weiß, warum Onkel Eric mit Ihnen allein sein wollte."
"Es geht nicht darum, was dein Onkel will", erwiderte Claire, erschrocken über ihre Offenheit. "Manchmal werden Leute, nachdem sie auf einer Party waren, ein wenig ... unsensibel, und ich fürchte, genau das war heute Abend bei deinem Onkel der Fall."
"Ach, Sie meinen, er war wieder besoffen? Normalerweise singt er, wenn er zu viel getrunken hat, und Dad klopft an die Wand und sagt, er soll aufhören."
"Hm, jedenfalls, wenn heute Abend jemand im Weg war, war es dein Onkel und nicht du. Glaubst du mir?"
"Ich glaube schon." Wieder zuckte Melanie die Schultern.
"Wenn Sie es sagen."
"Aber du scheinst nicht ganz überzeugt zu sein. Deswegen möchte ich dir noch etwas sagen. Wir beide kennen uns zwar noch nicht lange, aber wir sind Freundinnen, nicht? Und Freunde belügen sich nicht und brechen auch nicht ihr Wort. Ich werde dir gegenüber immer ehrlich sein, und ich werde versuchen, niemals ein Versprechen zu brechen."
"Aber Sie sind nur noch eine Woche hier, und alle Versprechen bedeuten nichts, wenn derjenige, der sie gegeben hat, nicht mehr da ist, um sie einlösen zu können", wandte Melanie mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen Einsicht ein.
Das stimmt, dachte Claire und nahm sich vor, alles daranzusetzen, Melanie, die für ihr Alter schon viel zu viel Kummer hatte ertragen müssen, nie wieder zu verletzen. "Ich eröffne ein kleines Geschäft in Vancouver und habe vor, oft nach Kanada zu kommen, um mich zu vergewissern, dass alles gut läuft. Deswegen wirst du mich wieder sehen. Und wenn ich nicht da bin, kannst du mich jederzeit anrufen. Glaub mir, Melanie, unsere Freundschaft bedeutet mir zu viel, als dass ich sie mit meinem Urlaub enden lassen möchte."
"Mensch, Claire!" In Melanies großen blauen Augen schimmerten Tränen. "Das hat noch nie jemand zu mir gesagt."
"Zut!" rief Claire, die selbst den Tränen nahe war. "Wenn dein Vater merkt, dass du weinst, wird er mich rauswerfen. Also lächle."
Melanie wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen ab. "Schon okay, ich heul nicht richtig."
"Aber wir sind beide müde, und in solchen Momenten werden Frauen gefühlsbetont. Es war ein langer Tag, und wir brauchen beide unseren schönen Schlaf."
Nun kicherte Melanie. "Sie meinen Schönheitsschlaf."
"Was auch immer. Und von nun an kannst du mich duzen."
Claire küsste sie auf beide Wangen und wandte sich zum Gehen.
"Schlaf jetzt, Schatz. Wir sehen uns morgen."
"Würde es Ihnen ... ich meine, würde es dir etwas ausmachen...?"
Claire, die gerade ihr Cape zuknöpfen wollte, sah auf und stellte fest, dass Melanie verlegen wirkte. "Oui?"
Melanie zuckte die Schultern. "Können Sie mich zudecken, bevor Sie gehen?"
"Zudecken?"
"Oh ..." Beschämt senkte Melanie den Blick. "Wenn Sie ...
wenn du nicht willst, ist es okay. Dafür bin ich sowieso schon zu alt."
Wenn sie es nicht wollte? Sie, Claire, hatte ihr halbes Leben gebraucht, um darüber hinwegzukommen, dass
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