Tausendschön
die problematische Beziehung zu ihrem Vater, gegen den sich alles zu richten schien. Jakob Ahlbin war es gewesen und nicht Marja, der den vermeintlichen Doppelselbstmord begangen haben sollte. Zudem war Jakob bedroht worden und nicht Marja, die hingegen wohl aber diejenige sein konnte, die die Drohmails geschickt hatte.
Eine Bewegung des Kindes, das sie unterm Herzen trug, riss sie aus ihren Gedanken. » Meine Güte, jetzt hast du mir aber Angst gemacht«, flüsterte sie und fuhr sich mit beiden Händen über den Bauch.
Sie atmete angestrengt. Es passierte einfach gerade zu viel gleichzeitig. Das Kind, die Arbeit, Spencer. Sie nahm einen Schluck Wasser und spürte, wie der Körper die Feuchtigkeit einzusaugen schien. Immer gestresst und unruhig, nie mehr als ein paar gute Tage hintereinander.
Das Kind hatte selbstverständlich oberste Priorität. Mit Spencer könnte es ebenso sein, wenn er ihr nur ein wenig entgegenkommen würde. Wütend knüllte sie ein Blatt Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. Er tat es einfach nie. Und jetzt war er unterwegs zu irgendeiner geheimen Unternehmung, in die er sie nicht hatte einweihen wollen. Dann kann er mir im Moment auch gestohlen bleiben, entschied Fredrika und konzentrierte sich wieder auf ihre Notizen.
Sie starrte auf die kurze Liste mit Fragen, die sie für Johanna Ahlbin zusammengestellt hatte.
Wir haben sie tagelang gesucht, dachte Fredrika, während wir gleichzeitig – oder besser gesagt: stattdessen – Karolina hätten suchen sollen.
Wo war sie nur? Immer noch in Thailand? Und wie passte Thailand überhaupt ins Bild? Bei der Botschaft hatte Karolina angedeutet, dass sie das Opfer eines Komplotts sei, dass sie mitnichten Therese Björk war und auch niemals einen Fuß in das Hotel gesetzt habe, in dem man bei der Razzia bewiesenermaßen all ihre Habseligkeiten gefunden hatte.
Behände sammelte Fredrika ihre Papiere und Aufzeichnungen zusammen und machte sich bereit, Johanna Ahlbin entgegenzutreten. Als sie die Tür zu ihrem Zimmer zumachte, huschte blitzschnell ein Gedanke vorbei.
Warum hatte eigentlich niemand sonst gewusst, dass Karolina verreist war, und entsprechend reagiert, als weithin behauptet worden war, sie wäre tot? Elsie und Sven Ljung hatten nicht infrage gestellt, dass sie noch im Lande war, ebenso wenig Ragnar Vinterman oder der Psychiater von Jakob Ahlbin. Zwar hatte die Polizei nicht mit vielen Menschen aus ihrem Bekanntenkreis gesprochen, doch auch jetzt, da ihr Name und Schicksal in den Medien auftauchten, hatte sich niemand bei der Polizei gemeldet und erklärt, dass sie nicht gleichzeitig im Ausland sein und tot in der hiesigen Pathologie liegen konnte.
Warum hatte sie das Land also heimlich verlassen?, fragte sich Fredrika. Und wann hatte sie, wenn überhaupt, vor zurückzukehren?
Eine plötzliche Erkenntnis ließ den Boden unter ihren Füßen schwanken. Es gab einen Menschen, den sie unberücksichtigt gelassen hatten, der aber womöglich die Antwort auf diese Frage wusste. Jemand, mit dem die Polizei nie Kontakt aufgenommen hatte, weil es als sinnlos betrachtet worden war. Jemand, der ihnen nichtsdestotrotz als eine Person beschrieben worden war, die Karolina sehr nahegestanden haben sollte.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und trat zurück hinter ihren Schreibtisch. Es dauerte nur eine Minute, die Nummer zu finden, nach der sie suchte. Ungeduldig hörte sie es klingeln und wartete, dass jemand ranging.
Kurz vor Mittag fing es an zu schneien. Mit müden Augen sah sie aus dem Fenster. Blickte zum Himmel, wo sich Gott, der sie so oft im Stich gelassen hatte, angeblich aufhielt.
Dich zu lieben, hatte ich wirklich überhaupt keinen Grund, dachte sie verbittert und verspürte nicht einmal mehr den geringsten Anflug von Zweifel.
Sie sah nicht aus wie eine alte Frau, doch diese Einschätzung konnte fehlerhafter nicht sein. Sie war alt, erschöpft und traurig nach Jahren des Kummers und der Probleme. Während der ersten Prüfungen hatte sie sich an die Kirche gewandt und an den Herrn, der über sie alle wachte. Doch am Ende war sie es so wahnsinnig müde geworden, doch nie erhört zu werden, dass sie schließlich aufhörte, im Gottesdienst die Hände zum Gebet zu falten.
» Er hört mich ja doch nicht«, flüsterte sie ihrem Mann zu, der sie diskret zurechtwies.
Erst hatten sie darüber gestritten. Ihr Mann hatte sich geweigert, die harten Worte, mit denen sie über den Herrn gesprochen hatte, zu akzeptieren. » Du lästerst Gott,
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