Tausendschön
Ereignisse ihr zugesetzt.
Eine Fassade, ahnte Fredrika. Sie ist es gewohnt, eine Fassade aufrechtzuerhalten. Sie zeigt keine Gefühle.
» Ursprünglich war es als private Reise geplant«, begann sie zögerlich. » Ich hatte ohnehin Urlaub eingereicht, und …«
Sie unterbrach sich und sah auf ihre Hände. Lange, schmale Finger mit unlackierten Nägeln. Kein Ehering, auch kein Verlobungsring.
» Sie wissen sicher vom Flüchtlingsengagement meines Vaters«, sagte sie schließlich.
» Ja«, erwiderte Alex.
Johanna nahm einen Schluck von dem Wasser, das vor ihr stand.
» Wir hatten jahrelang unterschiedliche Ansichten in dieser Sache, er und ich«, erzählte sie, » doch dann ist im vorigen Herbst etwas passiert, das alles veränderte.«
Sie holte tief Luft.
» Ich war in Griechenland, wir sollten ein Geschäft mit einem wichtigen Kunden abschließen. Ich blieb noch ein paar Tage länger, hängte privat Urlaub an. Und da sah ich sie.«
Fredrika und Alex warteten gespannt.
» Die Flüchtlinge, die nachts mit dem Boot kamen«, erklärte Johanna Ahlbin mit leiser Stimme. » Ich konnte zu der Zeit nicht richtig schlafen. Manchmal habe ich das, wenn ich im Stress bin. Und so kam ich eines Morgens auf die Idee, zum Hafen runterzugehen … und da sah ich sie.«
Sie blinzelte ein paarmal und versuchte zu lächeln, ehe ihr Gesicht vollkommen einfiel.
» Es war alles so verdammt würdelos. Und ich dachte … Nein, ich dachte nicht, sondern ich fühlte vielmehr, wie falsch ich all die Jahre gelegen hatte. Wie ungerecht ich meinem Vater gegenüber gewesen war.« Ein trockenes Lachen entrang sich ihrer Kehle, und sie sah fast so aus, als würde sie in Tränen ausbrechen. » Aber Sie wissen ja, wie es ist. Vor den Eltern gibt man nicht klein bei. Und deshalb erzählte ich meinem Vater erst einmal nichts davon. Ich wollte ihn überraschen, wollte ihm zeigen, dass ich es ernst meinte. Ich habe eine Flüchtlingsorganisation kontaktiert, die unter anderem in Spanien aktiv ist. Habe angeboten, sie als Juristin ehrenamtlich zu unterstützen. Ich sollte im Februar und im März fünf Wochen lang dort eingesetzt werden.«
Fünf Wochen – so lange hatte sie Urlaub beantragt.
Da es nicht so aussah, als ob sie weiterreden wollte, fuhr Alex an ihrer Stelle fort. » Aber dazu kam es nicht.«
Johanna Ahlbin schüttelte den Kopf. » Nein, dazu kam es nicht. Stattdessen wurde ich in Karolinas Pläne hineingezogen.«
Fredrika bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhl. » Was ist denn geschehen?«
Johanna schauderte. » Alles ging so furchtbar schief«, sagte sie und sah mit einem Mal sehr müde aus. » Karolina … Karolina hat sich selbst immer schon als die gute und loyale Tochter verkauft. Sie war immer mächtig interessiert an allem, was unser Vater sich vornahm, doch das war alles so schrecklich vordergründig, dass ich nicht einmal so tun konnte, als wollte ich an dem ganzen Mist beteiligt sein.«
» Inwiefern vordergründig, wie meinen Sie das?« Fredrika erinnerte sich an all die Zeugenaussagen, in denen es geheißen hatte, dass Karolina diejenige gewesen sei, die die Werte des Vaters geteilt hatte.
» Jahr für Jahr hat sie so getan, als ob«, antwortete Johanna Ahlbin mit finsterem Blick und sah Fredrika direkt in die Augen. » Sie behauptete, sie würde sich für dieselben Themen begeistern wie er und würde seine Wertvorstellungen teilen. Doch nichts von alledem war wahr. In Wirklichkeit diente die sogenannte Hilfe, mit der sie unserem Vater und seinen Freunden beistand, nichts anderem, als der Polizei anonyme Tipps zu geben, wo die Flüchtlinge sich aufhielten und wo sie die Schlepper hochnehmen konnten.«
Plötzlich wurde es sehr kalt im Zimmer. Fredrikas Kopf arbeitete auf Hochtouren, um das Bild zu verarbeiten, das sich ihr bot.
» Ich habe unzählige Male versucht, unserem Vater zu erklären, dass Karolina keinen Deut besser war als ich, sondern dass sie sogar ein schlechterer Mensch war, weil sie ihn anlog und betrog. Aber er hörte nicht auf mich.«
Johanna sah verbittert aus. Fredrika hätte fast gefragt, warum sie nicht weinte, doch sie schwieg lieber. Vielleicht war die Trauer zu privat.
» Was war mit Ihrer Mutter?«, fragte Alex.
» Sie war irgendwie mittendrin«, antwortete Johanna Ahlbin ausweichend.
» Mittendrin?«
» Zwischen mir und meinem Vater.«
» Sie meinen, von ihren Ansichten her?«
» Ja.«
» Warum hatte Karolina etwas gegen die Flüchtlinge?«, warf Fredrika ein und korrigierte sich
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