Tausendschön
dann: » Ich meine, warum hat Karolina etwas gegen die Flüchtlinge?«
Sie sah deutlich, dass Johanna Ahlbin auf die Umformulierung reagierte, die nur offenbarte, womit die Polizei bereits an die Presse gegangen war: nämlich dass man inzwischen davon ausging, dass Karolina Ahlbin doch am Leben war.
Erst antwortete sie nicht, doch als die Worte dann kamen, trafen sie Fredrika und Alex mit voller Kraft.
» Weil sie von einem der Flüchtlinge, die unser Vater versteckt hatte, vergewaltigt wurde.«
» Vergewaltigt?«, wiederholte Alex ungläubig. » Wir haben keine Anzeige über eine Vergewaltigung in unserem Register finden können.«
Johanna Ahlbin schüttelte den Kopf. » Er ist nie angezeigt worden. Unsere Eltern meinten, das ginge ja nicht, denn sonst würde ihre ganze Tätigkeit auffliegen.«
» Was haben sie denn stattdessen gemacht?«, fragte Fredrika, die nicht sicher war, ob sie die Antwort hören wollte.
» Sie haben es so gehalten wie alles andere auch«, erwiderte Johanna verbittert. » Innerhalb der Familie. Und dann hat unser Vater seine Tätigkeit in Lichtgeschwindigkeit abgewickelt, könnte man sagen.«
Die Erinnerungen an den Besuch auf Ekerö kehrten zurück, und Fredrika sah Alex an, dass er das Gleiche dachte. Die Fotos an den Wänden – bis zu einem Mittsommerfest Anfang der 1990er Jahre. Johanna, die wie ein Geist auf den Fotos verblasste. Aber warum Johanna und nicht Karolina?
» Können Sie das Ereignis, von dem Sie eben erzählt haben, datieren?«, fragte Alex, obwohl er die Antwort bereits kannte.
» Mittsommer 1992.«
Sie nickten beide, machten sich Notizen. Das Bild wurde klarer, doch scharf war es immer noch nicht.
» Was geschah dann?«, fragte Fredrika.
Johanna Ahlbins Haltung wurde etwas entspannter. » Das Haus auf Ekerö wurde zu einer Pestkammer, in der sich keiner von uns mehr wohlfühlen konnte. Es war nicht nur so, dass unser Vater aufhörte, Flüchtlinge dort zu verstecken. Sondern es war, als wäre die Familie in jenem Sommer zerbrochen. Wir feierten nie wieder Mittsommer dort, sondern fuhren nur noch hin und wieder am Wochenende hin. Unsere Eltern wollten das Haus eine Zeit lang sogar verkaufen, aber daraus wurde nie etwas.«
» Wie erging es Karolina?«
Zum ersten Mal im Laufe des Verhörs sah Johanna Ahlbin wütend aus. » Ihr musste es furchtbar gehen, das war doch jedem klar, aber sie tat einfach so, als wäre nichts! Bevor das alles passierte, waren die Rollen übrigens vertauscht – da war ich die Lieblingstochter, und sie war diejenige, die immer alles anders haben wollte als der Rest der Familie. Nach der Vergewaltigung ergriff ich für sie Partei, denn ich fand nicht, dass die Reaktion unseres Vaters angemessen war. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte selbstverständlich die Polizei gerufen werden müssen. Der Täter hätte bestraft werden müssen. Sie können sich vorstellen, wie entsetzt ich war, weil für Karolina scheinbar alles in Ordnung war.«
» Sie müssen sehr verbittert gewesen sein«, sagte Alex vorsichtig.
» Furchtbar. Und allein. Plötzlich schien es, als wäre es meine Schuld, dass die Familie in die Brüche ging. Meine Schuld und nicht die unseres Vaters oder unserer Mutter. Oder von mir aus auch die von Karolina.«
» Was hat Sie am meisten frustriert?«, fragte Fredrika.
» Was ich eben gesagt habe«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. » Dass Karolina sich veränderte. Dass sie mir gegenüber offen gestand, wie sehr sie die Einwanderer, die nach Schweden kamen, verachtete, während sie unseren Eltern das Gegenteil vorspielte.«
Nicht nur den Eltern, sondern auch den Freunden und Bekannten der Familie, stellte Fredrika fest.
» Daraufhin haben Sie Abstand von Ihrer Familie genommen.«
Johanna Ahlbin nickte. » Ja. Ich konnte diese ganze Heuchelei einfach nicht mehr ertragen. Und ich habe keinen von ihnen vermisst, jedenfalls nicht sonderlich. Und schon gar nicht, als unser Vater davon anfing, wieder Flüchtlinge verstecken zu wollen. Ich war die Einzige in der Familie, die darauf ablehnend reagierte.«
Fredrika und Alex sahen einander an, unsicher, wie sie fortfahren sollten. Das Bild von Karolina hatte sich in weniger als einer Stunde radikal verändert. Trotzdem waren sie noch längst nicht fertig, das war ihnen beiden klar.
Fredrikas Blick fiel auf eine Tätowierung auf Johanna Ahlbins Handgelenk. Das Uhrenarmband verdeckte sie fast – eine Blume, ein Tausendschön.
Wo hatte sie das schon einmal gesehen?
Ihre
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