Tausendschön
und das auch noch in der Kirche!«
Aber was blieb ihr denn noch? Die zwei Söhne, die sie zur Welt gebracht hatte und die zunächst ein Segen für sie gewesen waren, hatten sich mit der Zeit zu einem Fluch entwickelt, der wie ein einziges großes Ödem auf ihrer Seele lag. Während sie erwartet hatte, dass die Jungen stark werden und einander das Nächste im Leben sein würden, hatten sie sich stattdessen so weit voneinander entfernt wie Kain und Abel. Sie sah sie kaum noch. Den Älteren, der dem Jüngeren so übel mitgespielt hatte, vermisste sie kaum.
Aber der Jüngere! Er war immer schon der Schwächere gewesen, ein bisschen verlorener und so unendlich viel besser als irgendjemand anders in der Familie. Er war daran zerbrochen, der ewig Zweite im Schatten seines großen Bruders zu sein.
Ich habe es zu spät gesehen, erkannte sie, als sie nun die Schneeflocken betrachtete, die aus dem grauen Himmel fielen. Und nun kann ich nichts mehr ausrichten.
Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie seine Schritte hinter sich nicht wahrnahm.
Er räusperte sich, sah hinunter zur Straße, bis der Blick auf einem Auto zu ruhen kam, das an der Bordsteinkante stand. » Die stehen schon seit gestern da«, sagte er so leise, dass sie ihn zuerst nicht verstand.
» Wer?«, fragte sie verwirrt.
Sein müder Finger zeigte es ihr.
» Ich glaube, wir müssen über etwas reden«, sagte er dann. » Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann alles den Bach hinuntergeht.«
Sie sah ihn lange an.
» Ich weiß«, flüsterte sie und spürte, wie die Tränen in ihr aufstiegen. » Ich weiß alles.«
Das Erste, was Alex und Fredrika auffiel, war, dass Johanna Ahlbin überhaupt nicht so aussah wie auf den Bildern aus dem Sommerhaus. Sie staunten angesichts der großen, schönen Frau mit dem langen blonden Haar, die zur vereinbarten Zeit im großen Foyer des Polizeigebäudes auf sie wartete. Vor allem erstaunte sie, dass sie so ruhig und gefasst wirkte – Eigenschaften, die auf den Fotografien nirgends zutage getreten waren.
So sieht wohl kaum eine Frau aus, deren ganze Familie ums Leben gekommen ist, rief sich Fredrika in Erinnerung.
Der Moment, in dem Johanna ihnen die Hände schüttelte und sie begrüßte, kam ihnen fast unwirklich vor. So viele Tage des Schweigens, und nun stand sie plötzlich vor ihnen.
» Es tut mir wirklich von Herzen leid, dass ich so schwer zu erreichen war«, sagte sie, während sie zu dem Verhörraum gingen, den Fredrika gebucht hatte. » Glauben Sie mir, ich habe meine Gründe gehabt, mich nicht zu erkennen zu geben.«
» Die würden wir sehr gern erfahren«, sagte Alex höflich.
So redet er doch sonst nicht, dachte Fredrika.
Sie setzten sich an den Besprechungstisch, Fredrika und Alex auf die eine Seite, Johanna Ahlbin auf die andere. Fredrika betrachtete die Frau fasziniert. Die hohen Wangenknochen, der große und beneidenswert wohlgeformte Mund, der stahlgraue Blick. Der beige Pullover, den sie trug, fiel ihr schnurgerade von den breiten Schultern. Abgesehen von schlichten Perlenohrringen trug sie keinen Schmuck.
Fredrika versuchte, den Gesichtsausdruck der jungen Frau zu interpretieren. Es musste doch irgendetwas von dem, was sie fühlen oder was sie belasten musste, zu lesen sein! Doch wie gründlich sie Johanna Ahlbins Erscheinung auch musterte, verriet ihr Mienenspiel doch rein gar nichts. Fredrika empfand die Ruhe der anderen Frau als unbehaglich. Intuitiv spürte sie, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Zu ihrer Erleichterung begann Alex das Verhör. » Wie Sie wissen, haben wir händeringend versucht, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen. Deshalb schlage ich vor, dass wir am Ende anfangen. Wo waren Sie in den letzten …«
Alex runzelte die Stirn und unterbrach sich selbst.
» … neun Tagen«, sagte er dann. » Wo waren Sie seit Montag, dem 25. Februar?«
Gut, dachte Fredrika, dann muss sie nämlich auch erzählen, wo sie in der Mordnacht war.
Doch Johanna Ahlbins Antwort kam so schnell und war so kurz, dass sowohl Fredrika als auch Alex sich verblüfft zeigten.
» Ich war in Spanien.«
Alex sah sie entgeistert an. » In Spanien?«
» In Spanien«, bestätigte Johanna Ahlbin mit fester Stimme. » Ich besitze Reiseunterlagen, die das bestätigen.«
Es wurde kurz still.
» Was haben Sie dort gemacht?«, fragte Fredrika.
Wieder entstand ein kurzes Schweigen. Johanna Ahlbin schien abzuwägen, was sie sagen sollte, und zum ersten Mal wirkte es so, als hätten die
Weitere Kostenlose Bücher