Tausendstern
Wenn sie diese Möglichkeit vorzeitig bekannt werden ließen, könnten die anderen Klons sie zu einer Klon- Heirat zwingen und ihm dadurch die Möglichkeit nehmen, den Namen des Gutes auf seinen Erben zu übertragen. Jessica wünschte ihm jeden Erfolg. Sie mochte keinen der in Frage kommenden Klons. Sie bevorzugte reifere Männer, doch die älteren Klons waren schon alle besetzt. Daher hielt sie es für das beste, sich mit irgendeinem attraktiven Gemeinen in die Anonymität zu begeben.
Der Drachen stampfte in den Empfangshof und blieb stehen. Bedienstete erschienen und führten ihn, nachdem die Passagiere ausgestiegen waren, auf die Weide. Drachen waren Allesfresser, die am liebsten die fetten Monsterraupen jagten, die so groß wie ein Mensch wurden. Sie gaben sich aber auch mit Tannennadeln zufrieden. Dabei zogen sie die bereits herabgefallenen und etwas älteren Nadeln vor, so daß die Drachen niemals den Bäumen irgendwelchen Schaden zufügten. Ihre Zähne waren einzigartig, denn zwischen weichem Raupenfleisch und harten, getrockneten Tannennadeln bestand schon ein erheblicher Unterschied. Es schien, als hätten die Drachen sich anfangs als Pflanzenfresser ausgebreitet, doch dann zur Selbstverteidigung Reißzähne entwickelt und schließlich entdeckt, daß man derart spezialisierte Zähne auch zum Vertilgen von Fleisch verwenden konnte.
»Jetzt sieh dich vor, Hälfte«, sagte Jesse vergnügt. Eine durchaus notwendige Warnung; seit einiger Zeit wurde sie immer trübsinniger und nachdenklicher, während er nichts von seiner Wachsamkeit verlor. Lag das an gewissen geschlechtlichen Unterschieden oder daran, daß ihr eine derartige Maskerade grundsätzlich nicht paßte?
Die Eingangshalle war mit kunstvoll plazierten Balkentrümmern und Hochwasserflecken dekoriert. An einem Ende gab es sogar ein Abflußloch. Dann mußten sie durch ein Schiffswrack hindurchklettern, um den Hauptsaal zu erreichen.
Jesse wartete einen Moment, ehe er den letzten Schritt machte. Er packte einen abgesplitterten Knüppel und stach damit in die Decke. Ein Plastikeimer kippte um und ergoß seinen Inhalt auf den Boden. »Ich hab' die Pfütze bemerkt«, erklärte er stolz und betrat den Saal, um sogleich vom zweiten Eimer Wasser durchnäßt zu werden.
Jessica wand sich dann aus dem Schiff. Auch sie hatte die Pfütze bemerkt - solche Scherze waren bei Klon-Bällen üblich -, doch sie war noch immer etwas mißtrauisch. Eine solche Dusche hätte ihrer Tarnung übel mitspielen können. Nun waren sie eindeutig zu unterscheiden: der trockene Jesse vom nassen Jesse. Das könnte gefährlich werden.
In dem Saal herrschte eine steife Brise, getreu dem gewählten Motto. Jesse fröstelte, als seine Kleidung trocknete, und eilte in eine Erfrischungsnische, um sich ein leicht berauschendes Zyklo-Paarungs- Getränk zu holen. Jessica mußte ihn dorthin begleiten und ebenfalls ein Getränk nehmen, doch sie trank es weitaus langsamer. Es galt als besonders spaßig, solche Getränke mit Rauschmitteln oder Aphrodisiaka zu präparieren. Sie war immer noch nervös und fürchtete, daß jemand ihre plattgedrückten Brüste unter dem weitgeschnittenen Männerhemd erkennen würde.
Nachdem Jesse sein Glas geleert hatte, wurde er zunehmend geselliger. Etwa im gleichen Maße wuchs Jessicas Furcht vor Entdeckung. Die Situation forderte von ihr, immer weniger wie er zu sein, so daß sie mehr und mehr wie er zu sein schien. Wenn er seine Vorsicht fahren ließ und zuviel redete...
Sie schlenderten umher und schwatzten mit anderen Klons. Die älteren waren verheiratet, und jedes Klon-Mitglied begleitete seinen/ihren Partner; die Kinder, die das Miteinander-bekannt-Machen langweilig fanden, spielten im Tiefparterre Paar-Fangen. Jesse und Jessica gehörten zur Minderheit der Jugendlichen; wie zum Selbstschutz hielten sie sich vorwiegend in deren Gesellschaft auf.
»He, Jess! Wo hast du dich denn rumgetrieben?« grölte ein Mann heiser und schlug Jessica wuchtig auf den Rücken. Ihr Drink schwappte auf den Fußboden, nicht schade drum. Ihre Angst wuchs, daß die Getränke tatsächlich präpariert waren, als sie beobachtete, welche Mühe ihr Bruder hatte, den Gesprächen zu folgen.
»Wir hatten zu tun, Jules«, entgegnete sie. In Wirklichkeit hatten sie auf die Teilnahme an der Jung-Klon-Party verzichtet, da sie genug Probleme mit ihrem Reifeprozeß hatten. Doch wenn sie zu oft fehlten, machten sie sich verdächtig und würden Argwohn erwecken. Und das konnten sie sich nicht
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