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Tausendstern

Tausendstern

Titel: Tausendstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Piers Anthony
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den schlagenden Flügeln zerfasert wurden. Natürlich war der Drachen in Wirklichkeit keine magische Kreatur; er war ein auf diesem Planeten lebendes Tier, das zufälligerweise einem Wesen aus der solarischen Sagenwelt ähnlich sah, daher hatte man ihm auch dessen Namen gegeben.
    Dennoch, dachte Jessica, hatte er etwas Magisches an sich, denn es war letztendlich die Mystik des Drachens, die dieses idyllische Reservat geschaffen hatte. Drachen brauchten weitläufige Lebensräume; diese Räume durch zu viel Zivilisation einzuengen, hätte zur Vernichtung dieser einmaligen Geschöpfe geführt. Zu oft hatte der Mensch in seiner Ahnungslosigkeit den Untergang ganzer Arten verursacht; damit mußte Schluß sein. Der Stern Capella war das sagenhafte Auge des Wagenlenkers - und was war ein solcher Wagen ohne einen Drachen, der ihn zog? Daher empfand das System es als vordringlichste Aufgabe, die Drachen als Art zu erhalten, und dazu war es notwendig, in großen Teilen des Planeten dessen ursprüngliche Ökologie zu bewahren. Ein solches Wunder fand man in der Sphäre Sol recht selten!
    Nun kam Zyklon in Sicht, eines der wunderschönen alten Schlösser aus der Zeit der Königin Bess. Es war mit zerfransten Sturmwarnflaggen geschmückt, als wäre gerade erst das Auge eines Wirbelsturms darüber
    hinweggegangen und hätte Spuren hinterlassen. Die Schießscharten waren kreuzweise mit Brettern vernagelt, ein Pseudoschutz für nicht vorhandene Glasscheiben.
    »Cy und Cy hatten bereits ihren Spaß«, murmelte Jesse. »Ab einem gewissen Punkt wirkt ein Motto nur noch albern.«
    Jessica pflichtete ihm wie gewöhnlich bei; sie stand ihrer Hälfte so nahe, wie eine Person einer anderen nur nahestehen kann. Sie hätte mit ihm identisch sein können, abgesehen von ihrem unterschiedlichen Geschlecht, und das war eigentlich auch nur ein Geschenk (oder Fluch?) der Wissenschaft. Genchirurgie, das Hinzufügen eines X-Chromosoms - so etwas war bis vor kurzem noch nicht möglich gewesen, und einfach war diese Prozedur auch heute noch nicht. Das schwindende Vermögen dieses Gutes war noch mehr angegriffen worden, um die Operation zu finanzieren.
    In dem Bewußtsein, daß sie die Geschlechtsänderung wettmachen mußte, hatte sie sich bemüht, ihrem Bruder so ähnlich wie möglich zu werden, und daher stand sie ihm in gewissen Bereichen näher, als es bei normalen rein männlichen oder rein weiblichen Klon-Paaren der Fall war. Allerdings stand sie dieser Party weitaus reservierter gegenüber als ihre männliche Hälfte. Das lag nicht daran, daß sie weiblich war, sondern daran, daß niemand davon wissen durfte. Sie durfte sich nicht gehen lassen; sie mußte jegliche Reaktion unter Kontrolle haben, sonst verriet sie das Geheimnis ihres Klons.
    Natürlich war dies nichts Neues für sie. Seit ihrer Kindheit spielte sie diese Rolle. Sie konnte das Verhalten ihrer männlichen Hälfte derart gut imitieren, daß noch nicht einmal andere Klons einen Unterschied feststellen konnten. Doch diese Erfahrungen stammten aus einer Zeit vor dem Beginn des geschlechtlichen Reifeprozesses.
    Nun hatten Jesse und Jessica ihre Pubertät hinter sich, und es war noch schwieriger geworden, das Geheimnis zu wahren. Sie war nun etwas kleiner als er, obwohl sie früher einmal sogar etwas größer gewesen war; spezielles Schuhwerk glich diesen Unterschied aus. Bei ihr hatten sich Brüste entwickelt und andere unübersehbare äußere Unterschiede, was auf die Wirkung des X-Chromosoms zurückzuführen war. Jesse hatte ihr in dieser Hinsicht schon des öfteren galante Komplimente gemacht. »Nun weiß ich, wie schön ich als weibliche Version aussehe«, sagte er ihr. »Doch an deiner Stelle würde ich meine Euter mit einem Gürtel runterschnallen und den Rest in einen Büstenhalter packen...« Natürlich hatte sie ihn daraufhin mit einem Kissen geschlagen; so verlangte es die Etikette.
    Sie mußten zu speziell geschnittenen Kleidern überwechseln, um ihre äußere Gleichheit zu erhalten. Sie trug einen Körpertrikot-Gürtel, mit dem ihre Brüste zu einem männlichen Brustkorb geformt wurden; er trug Polster, um Hüften und Oberschenkel kräftiger erscheinen zu lassen. Nun traten sie als leicht übergewichtiges männliches Klon-Paar auf, und das gefiel ihnen beiden nicht sonderlich - doch das Geheimnis ihrer Identität mußte gewahrt werden, bis der Paarungsprozeß der Klons weit genug fortgeschritten war. Wenn er keine Weibliche fand, dann mußte sie sich einen Männlichen suchen.

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