Tausendundeine Nacht mit dir
ich nicht. Sie haben Ihr Ziel erreicht, Carlo: Meinen Ruf als seriöse Filmemacherin zu ruinieren.“ Estrella presste den Aktenordner an ihre Brust. „Aber Sie haben nicht mich getroffen, sondern viele kleine Mädchen.“
Sie schlug den Ordner auf, um ihm einige Schwarz-Weiß-Fotos zu zeigen. „Diese Babys sollten gleich nach ihrer Geburt getötet werden, nur weil es Mädchen sind. In einigen Dörfern in Tamil Nadubringt man weibliche Säuglinge immer noch um, weil die Menschen glauben, dass ein Mädchen ein Fluch für die Familie ist.“
Schmerz und Wut waren in Estrellas Augen zu erkennen, als sie ihn ansah. „‚Ein Herz‘ schildert die Geschichte eines Waisenhauses in Tamil Nadu, das diesen ungewollten Kindern ein Zuhause gibt. Außerdem berichtet der Film von Menschen im Süden Indiens, die trotz ihrer Armut versuchen, mit unseligen Traditionen zu brechen und anderen zu helfen.“
Mit einer heftigen Bewegung riss Estrella die Seite mit den Fotos heraus, um sie dem verblüfften Carlo in die Hand zu drücken. „Es ist so wichtig, diesen Film zu veröffentlichen. Und Sie haben das verhindert!“
Nachdenklich betrachtete Carlo die Fotos, die kleine Mädchen im Alter von einem bis zu drei Jahren zeigten. Sie alle besaßen wunderschöne dunkle Augen mit einem für Kinder ungewöhnlich ernsten Ausdruck. „Ich habe die Vorführung Ihres Films nicht sabotiert. Niemals könnte ich Ihnen das antun, Estrella!“
„Aber Sie haben mich immerhin in eine äußerst peinliche Lage gebracht!“
Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich zuletzt so böse und gemein gefühlt hatte. Es stimmte, er hatte Estrella in diese Situation gebracht, weil er sie falsch eingeschätzt hatte, weil er glaubte, sie benutze andere Menschen, spiele mit deren Gefühlen und nutze sie aus. Und er hatte den bösartigen Bemerkungen Andres geglaubt, ohne sich selbst ein Bild von Estrella zu machen.
Offensichtlich hatte Andre nicht die Wahrheit gesagt. Estrella war nicht so abgebrüht und gefühllos wie Joy.
„Warum?“ Estrellas leise Frage unterbrach seine Gedanken.
Er fühlte sich schuldig. „Ich dachte, ich müsse die hier anwesenden Männer vor Ihnen beschützen.“ Wie dürftig und fadenscheinig das klang. „Sie waren mit Andre zusammen, solange er reich war, aber als er nach seinem Schlaganfall alles verlor, verließen Sie ihn.“
Estrella schüttelte den Kopf. „Falls Sie an der Wahrheit interessiert sind, nicht ich habe Andre ausgenutzt, sondern er mich. Er plünderte mein Konto und schlief heimlich mit anderen Frauen. Auch als er den Schlaganfall hatte, war er nicht allein. Er lag mit einer meiner besten Freundinnen im Bett und schnupfte ein gewisses weißes Pulver.“
Carlo war erschüttert. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
5. KAPITEL
Estrella hatte Carlo gebeten, sich von ihr fernzuhalten, und er hielt sich daran. Nachdem sie eine Weile über ihre anscheinend ausweglose Lage nachgedacht hatte, erwachte ihr Kampfgeist. Sie musste die Leute auf ihre Dokumentation aufmerksam machen. Wenn die Filmvorführung nicht stattfand, würde sie eben einen anderen Weg finden, zum Beispiel könnte sie Cannes mit Flugblättern, die eine Zusammenfassung von „Ein Herz“ enthielten, überschwemmen.
Der Plan war gut, allerdings war es sehr zeitaufwendig, Tausende von Handzetteln zu verteilen. Am nächsten Tag stand Estrella auf der Croisette, der berühmten Promenade von Cannes, auf der sich ein Zelt an das andere reihte. Jedes Land war mit einem Pavillon vertreten, und alle beherbergten Leute, die sich angeregt mit einem Glas in der Hand unterhielten und Geschäfte machten.
Estrella bemühte sich, den Schmerz in ihren Armen und Beinen zu ignorieren. Das war völlig unwichtig. Allies Traum, den Kindern in Indien zu helfen, sollte in Erfüllung gehen. Nur das zählte! Der Gedanke an die armen Mädchen motivierte Estrella. Als sie am italienischen Pavillon vorüberging, ertönte aus dem Inneren plötzlich eine bekannte Stimme.
„Wie geht es Ihnen?“
Nicht schon wieder dieser Mann! Tausende von Menschen hielten sich anlässlich der Festspiele in Cannes auf. Warum nur musste sie Carlo Gabellini immer wieder in die Arme laufen? Estrella umklammerte den Packen Flugblätter, als er auf sie zukam.
Bekleidet mit einem weißen, am Hals offen stehenden Hemd und einer hellgrauen Hose aus feinstem italienischem Tuch, sah er einfach umwerfend aus.
„Sehr gut, danke“, gab sie zurück, sich um einen unbeschwerten Tonfall
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