Tausendundeine Stunde
sie und fügte hinzu: „Aber wer bestimmt eigentlich, was normal ist und was nicht. Außerdem sollten wir dankbar über unsere Kunden und deren seltsame Phantasien sein, sie bezahlen schließlich unseren Lohn, na ja, zumindest einen Bruchteil davon. Ich habe einen Kunden, der ist bestimmt schon um die achtzig. Der klingt immer, als ob er sein Gebiss verschluckt hätte. Der ist ganz lieb, mal abgesehen davon, dass er die Telefonate neben seiner Frau im Bett mit mir führt. Ist das normal? Aber vielleicht ist seine Frau taub und der alte Mann sehnt sich danach, mit mir seine Phantasien zu teilen und das wiederum ist doch normal.“
Bei dieser Vorstellung gluckste Claire wie ein Teeny. Zum Ende der Schicht war sie völlig genervt. Ich hörte, wie sie zu ihrem letzten Kunden sagte: „Weißt du was? Nimm deine Klammern und hilf deiner Frau beim Wäsche aufhängen. Vielleicht schläft sie dann wieder mit dir, und du brauchst dann hier nicht mehr anzurufen.“ Ich grinste, der Klammerfetischist hatte wieder einmal angerufen. Und schon hätten wir erneut über „normal“ und „unnormal“ philosophieren können.
Stattdessen gab ich zu bedenken: „Oje, ich glaube solche Sätze gefallen unserer Chefin nicht.“
„Ist mir egal“, entgegnete sie scharf. „Da wird man ja zum Männerhasser. Und ich weiß auch nicht, ob das der richtige Job für mich ist.“
Für mich war schon lange klar, dass es nicht der richtige Job war. Aus diesem Grund hatte ich auch mehrere Bewerbungen geschrieben. Von einem Call-Center erhielt ich eine Zusage. An meinem letzten Arbeitstag rief der Mann mit der faszinierenden Musik an.
„Hallo, Rebecca. Ich muss oft an Sie denken. Geben Sie mir Ihre private Telefonnummer?“
„Sorry, das werde ich ganz bestimmt nicht tun, ich kann Ihnen das Kennwort nennen und die Nummer, auf der Sie mich gleich zurückrufen können.“
„Bitte“, bettelte er am anderen Ende der Leitung.
„Nein“, entgegnete ich resolut, dann hörte ich ihn seufzen.
„Gut, dann gebe ich Ihnen meine Telefonnummer. Wäre nett, wenn Sie mich mal anrufen würden.“
„Geben Sie jedem gleich Ihre Nummer? Ich könnte eine Psychopathin sein, die Sie terrorisiert.“
„Sie sind keine Psychopathin. Sie sind eine Frau mit einer warmen, schönen Stimme. Sicher sind Sie eine sehr schöne Frau. Und viel zu schade für so einen Job.“
Gern hätte ich letzteren Satz ausführlich mit ihm diskutiert, aber ich machte ihm klar, dass ich keine langen Gespräche auf der Anmeldenummer führen kann und verabschiedete mich, er rang mir zuvor das Versprechen ab, mich bei ihm zu melden.
Ich nahm meine wenigen persönlichen Sachen und verließ die Agentur. Unten vor der Tür atmete ich erleichtert auf.
Kapitel 5
Ich hatte es hinter mich gelassen. Dieses Spiel der Illusionen. Nun wollte ich nur noch eins: Meinen Urlaub genießen und Kraft sammeln für meinen neuen Job.
Den restlichen freien Tag machte ich in meiner Wohnung klar Schiff. Ich hatte es noch nicht einmal geschafft, alle Kisten auszupacken, obwohl ich nun länger als ein halbes Jahr in der neuen Wohnung lebte.
Gerade, als ich nach einem der Kartons griff, rief Georg an. „Na, mit diesem Zeitungsfutzi läuft wohl nichts mehr? Du hast eine Mail von einem Joe bekommen. Der fragt nach, wie es dir geht und warum du nichts mehr von dir hören lässt.“
Ich sah keinen Grund, Georg darüber aufzuklären, dass es sich bei Joe um eine weibliche Zufallsbekanntschaft handelte. Er musste nicht glauben, dass ich nun in Einsamkeit verkümmerte. „Warum sollte es mit Bennet nicht mehr laufen? Ich muss mich doch nicht auf nur einen Mann festlegen. Aber danke, dass du mich informiert hast. Und, wie geht es deiner Katalogbestellung?“
„Was für eine Katalogbestellung?“, fragte er.
„Na, dieser asiatischen Dingsda, die du dir aus dem Katalog bestellt hast“, antwortete ich bissig.
„Shenaya geht es bestens. Und ich habe sie durch meine Arbeit kennengelernt.“
Das glaubte ich ihm sogar. Georg war viel zu geizig, um Geld für eine Frau auszugeben.
Gern hätte ich dieser Joe geantwortet, aber ich hatte ja nun keinen Computer mehr. Georg hatte mit seiner Frage leider Recht.
Mit Bennet lief tatsächlich nichts mehr. Das, was ich wirklich suchte, konnte oder wollte er mir nicht geben.
Seit ich meine eigene Wohnung hatte, kam Bennet mich öfters besuchen. Für ihn war ich wahrscheinlich so etwas wie ein Fertigprodukt aus dem Kühlregal. Er riss den Deckel ab und verschlang
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