Tausendundeine Stunde
wehmütig.
„Wie lange ist das her?“
„Hundert Jahre“, seufzte ich nun.
„Schön, dass Sie angerufen haben.“
„Wirklich?“
„Ja, wirklich. Sie müssen etwas ganz Besonderes sein. Sie haben eine so zarte, reine Stimme. Da schwingt so etwas Unschuldiges, Beschützenswertes mit. Wie groß sind Sie?“
„Sie wollen wissen, wie groß ich bin?“
„Ja, das will ich wissen. Einmeterachtundsechzig?“
„Einmetersechsundfünfzig.“
„Noch kleiner, als ich Sie mir vorgestellt habe. Und sonst?“
„Was jetzt, wollen Sie meine Maße wissen? Sorry, das habe ich hinter mir gelassen. Heute war mein letzter Arbeitstag. Wissen Sie, ich habe mich über Sie heute Mittag sehr geärgert.“ Meine Stimme klang nun aufgebracht.
„Sie haben sich über mich geärgert?“, wunderte sich Dietrich.
„Ja, Sie sagten, dass ich viel zu schade für so einen Job wäre. Ihr „so“ klang sehr abwertend. Ich sah Sie förmlich vor mir, wie Sie dabei Ihre Augenbraue in die Höhe zogen. Immerhin rufen Sie gerne Frauen an, die „so“ einen Job machen. Ich erbringe eine Dienstleistung. Und vielleicht verhindere ich durch diese Dienstleistung, dass Ehen auseinandergehen. Ich verkaufe Illusionen, so wie eine Fleischereifachverkäuferin eben Leberwurst verkauft. Haben Sie eine Ahnung davon, wie kreativ und flexibel man sein muss, um diesen Job zu machen? Sie sind auch einer von denen, die glauben, wir machen das aus purer Lust, oder? Bestimmt vertreten auch Sie die Meinung, dass wir daneben bügeln, Kartoffeln schälen oder das Haus putzen. Ich sage Ihnen jetzt etwas ...“
„Sie sagen doch schon die ganze Zeit etwas“, unterbrach mich Dietrich.
Ich ließ mich nicht beirren, denn ich war jetzt voller Wut. „Stimmt. Also versetzen Sie sich einmal in meine Situation. Gerade eben waren Sie die pralle Metzgerfrau mit Körbchengröße D, fünf Minuten später sind Sie Krankenschwester Luise, die ein Klistier verabreicht, zehn Minuten später so ein Pamela-Anderson–Verschnitt. Anschließend die strenge Lehrerin mit Hornbrille, die dem ungehorsamen Schüler den Hintern verhaut. Ich könnte Ihnen noch Hunderte von Beispielen geben.“
Ich hielt inne. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich innerlich noch nicht von diesem Job gelöst hatte.
„So habe ich mir das wirklich nicht vorgestellt. Und ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie blond, brünett, rot- oder schwarzhaarig sind.“
Ich war versöhnt: „Was vermuten Sie denn? Sie haben sich bestimmt von mir ein Bild gemacht. Wie glauben Sie, sehe ich aus?“
„Nun ja, im Allgemeinen wird behauptet, dass Menschen mit einer besonders faszinierenden Stimme eher sehr unscheinbar aussehen. Demnach müssten Sie eine kleine graue Maus sein. So ein unscheinbares Mauerblümchen. Aber Sie haben Recht, ich habe mir ein Bild von Ihnen gemalt. Eins in zarten Pastelltönen. Ich vermute, Sie sind sehr schlank und ich könnte mir vorstellen, dass Sie den Gang einer Katze haben. Sie lieben bestimmt geschmeidige Stoffe, die bei jeder Bewegung an Ihnen herabfließen. Ich denke, Sie haben hellbraunes, mittellanges Haar, leicht gewellt. Oder Sie tragen es hochgesteckt und betonen damit Ihren langen schönen Hals. Die Augen sind grün oder blaugrau, vermutlich mandelförmig. Ich sehe eine schmale Nase und einen makellosen hellen Teint. Sie haben bestimmt ein ehrliches Lächeln, also kein Sonntagslächeln.“ Er machte eine Pause.
„Interessant, wie Sie mich sehen. Und was glauben Sie, wie alt ich bin?“
„Ich fürchte zu jung für mich. Sie würden meiner neunzehnjährigen Tochter sicher eine gute Freundin sein können. Ich denke, Sie sind Mitte zwanzig. Sie sollten etwas weniger rauchen.“
„Woher wissen Sie, dass ich rauche? Können Sie mich sehen?“
„Ich höre es. Fhh, fhh, fhh …“.
„Ich habe sie ausgedrückt. Sie rauchen nicht?“
„Ich habe vor acht Jahren meine letzte Zigarette angefasst. Ich begann sie zu fressen. An manchen Tagen kamen vierzig Zigaretten schon mal zusammen. Rauchen ist unerotisch. Und Sie, haben Sie sich auch Vorstellungen über mich gemacht?“
„Nein, nicht wirklich. Ich war in letzter Zeit zu beschäftigt. Ich war verzweifelt auf der Suche nach dem berühmten Ariadnefaden, der mich aus meinem Schlamassel wieder herausführt. Wie sagt man so schön? Wenn man mit den Haien schwimmen will, sollte man nicht bluten.“
„Sie erstaunen mich immer mehr, Juliane. Sie sind sehr klug. Klug sein, bedeutet mehr, als, in Gänsefüßchen, nur
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