Taylor Jackson 03 - Judasmord
Versprechen, am nächsten Morgen wieder zu telefonieren, legten sie auf.
Ein Hund bellte einmal scharf und tief auf, dann heulte er. Das Geräusch verursachte ihr eine Gänsehaut. Bevor sie nach oben ging, stellte sie noch die Alarmanlage an.
Sie wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und war gerade dabei, ins Bett zu klettern, als sie den Einspieler das erste Mal hörte. Channel Five wiederholte seine Zehn-Uhr-Nachrichten um Mitternacht noch einmal auf einem Schwestersender. Mit einer dramatischen Stimme, die jeden Zuschauer in ihren Bann zog, kündigte der Sprecher die nächste Nachricht an.
„Wir werden Ihnen jetzt den Notruf vorspielen, der vom Tatort des Mords an Corinne Wolff aus abgesetzt wurde. Wir müssen Sie jedoch warnen, das Band ist sehr verstörend und für jüngere Zuschauer nicht geeignet.“
Der Bildschirm wurde schwarz, dann erschien ein Telefonsymbol auf blauem Hintergrund. Darüber stand das Wort Notruf. Das Band begann mit viel statischem Knistern, dann wurde es klarer. Michelle Harris’ Worte wurden vom Sender zusätzlich eingeblendet.
911-Vermittlung: „Neun-eins-eins, um was für einen Notfall handelt es sich?“
Michelle Harris: „Ich glaube, meine Schwester ist tot. Oh mein Gott.“ (weint)
911-Vermittlung: „Können Sie das wiederholen, Ma’am?“
Michelle Harris: „Da ist Blut, oh mein Gott, da ist überall Blut. Und da sind Fußspuren … HAYDEN?“
911-Vermittlung: „Ma’am? Ma’am? Wer ist tot?“
Michelle Harris: „HAYDEN, oh, lieber Jesus, du bist ja ganz voller Blut. Komm her. Wie bist du aus deinem Bettchen geklettert?“
911-Vermittlung: „Ma’am? Ma’am, wie ist die Adresse?“
Michelle Harris: „Ja, ich bin hier. Das ist 4589 Jocelyn Hollow Court. Meine Schwester …“
911-Vermittlung: „Hayden ist Ihre Schwester?“
Michelle Harris: „Hayden ist ihre Tochter. Oh Gott.“ Hintergrundgeräusche: „Mama aua.“
911-Vermittlung: „Wer ist tot, Ma’am?“
Michelle Harris: „Meine Schwester, Corinne Wolff. Oh Corinne. Sie ist, sie ist kalt.“ (Weinen, undeutliche Geräusche)
911-Vermittlung: „Die Polizei ist unterwegs, Ma’am.“
Taylor schaltete den Fernseher aus. Nach diesem Beitrag würde sie garantiert nicht einschlafen können. Sie stieg aus dem Bett und ging über den Flur in das Extrazimmer. Ein paar Runden Billard halfen immer, ihre Gedanken zu beruhigen.
Sie machte das Licht an, nahm die Schutzdecke vom Tisch und holte sich ein Miller Lite aus dem kleinen Kühlschrank, der unauffällig in einer Ecke stand. Mit einer lässigen Handbewegung beförderte sie den Kronkorken in den Mülleimer und stieß gleich danach einen Fluch aus. Sie hatte vergessen, die Ergebnisliste für die Basketballwette mitzunehmen. Darum musste sie sich gleich morgen früh kümmern.
Sie baute die Kugeln auf und fing ihr erstes Spiel an. Der Rhythmus der Bewegung sorgte dafür, dass sich in ihrem Körper eine stille Ruhe breitmachte. Vorbeugen, anvisieren, die Kugel treffen, versenkt. Immer und immer wieder, bis der Tisch leer war. Sie baute die Kugeln noch einmal auf. Das Bier war leer, also holte sie sich ein neues. Zwischendurch hielt sie immer wieder inne, trank einen Schluck, konzentrierte sich auf das vor ihr liegende Ziel, versuchte, ihren Kopf leer zu bekommen.
Taylor war es langsam leid, dass tiefer, ungestörter Schlaf für sie inzwischen ein Fremdwort geworden war, aber wenigstens wurde sie so auf dem Filz immer besser. Sollte sie mal Lust auf einen Karrierewechsel verspüren, könnte sie es vielleicht als Billardprofi probieren.
Es war inzwischen halb vier, und langsam merkte sie, wie der Schlaf an ihren Lidern zupfte und ihr Körper nach ein wenig REM-Zeit verlangte. Sie deckte den Billardtisch zu, warf die Bierflaschen in den Mülleimer, machte das Licht aus und ging zurück in ihr Schlafzimmer.
Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie trat ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und schaute auf die dunkle Straße hinaus. Die Eigentümervereinigung hatte in ihre Satzung ein Verbot von Straßenlaternen aufgenommen, was in Taylors Augen das Dümmste war, was sie je gehört hatte. Infolgedessen brannten die Außenlichter an einigen Häusern die ganze Nacht; ihr warmer, gelber Schein eine Warnung an alle, die vorhatten einzubrechen. Sie wusste, dass Licht die beste Abschreckung war. Doch nicht alle Hausbesitzer empfanden so.
Nur an drei Häusern weiter die Straße hoch brannten die Lampen, sodass
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