Tea-Bag
geworden, fiel ihr ein, daß sie den Tanz ausgelassen hatte, woraufhin sie sofort mit gewohnter Energie eine Tanztruppe gründete, in der keiner der Tänzer unter fünfundsechzig war. Märta Humlin hatte nach allem im Leben gegriffen, aber nichts hatte zwischen ihren unruhigen Händen hängenbleiben wollen.
Jesper, das jüngste von vier Geschwistern, hatte die anderen das Elternhaus verlassen sehen, so schnell es ihnen möglich war, und als er selbst zwanzig war, hatte er seiner Mutter mitgeteilt, er wolle jetzt ebenfalls allein wohnen. Als Jesper am nächsten Morgen aufgewacht war, hatte er sich nicht rühren können. Die Mutter hatte ihn ans Bett gefesselt. Es hatte ihn einen ganzen Tag und seine gesamte Überredungskunst gekostet, bis er sie dazu brachte, die Fesseln zu lösen. Damals hatte er ihr auch sein Ehrenwort geben müssen, daß er sie für den Rest ihres Lebens dreimal in der Woche besuchen würde. Jesper Humlin stellte einen Korb beiseite, der aus unerfindlichen Gründen Schlittschuhriemen enthielt, und setzte sich auf seinen angestammten Platz. Märta Humlin rumorte draußen in der Küche und kam mit einer Weinflasche und zwei Gläsern herein.
- Ich möchte keinen Wein.
- Warum nicht?
- Ich habe heute abend bereits Wein getrunken.
- Mit wem denn?
- Viktor Leander.
- Ich weiß nicht, wer das ist.
Erstaunt starrte Jesper Humlin auf seine Mutter, die sein Glas gerade bis zum Rand vollschenkte. Wenn er es hob, würde er etwas verschütten, und das würde ihr Anlaß geben, von dem empfindlichen Tischtuch aus Ägypten zu erzählen, das er gerade bekleckert hatte.
- Du bist mehrmals bei seinen Lesungen gewesen.
- Trotzdem erinnere ich mich nicht an ihn. Ich werde bald neunzig. Mein Gedächtnis ist nicht mehr, was es einmal war.
Wenn sie bloß nicht anfängt zu weinen, dachte Jesper Humlin. Ich verkrafte jetzt keinen Abend, an dem sie sich selbst und mir Gefühle abpreßt.
- Warum schenkst du mir ein, wenn ich sage, daß ich keinen Wein haben möchte?
- Ist er dir nicht gut genug?
- Es geht nicht darum, daß der Wein nicht gut ist. Es geht darum, daß ich gerade heute abend keine Lust habe, noch mehr Wein zu trinken.
- Du mußt nicht herkommen, wenn du nicht magst. »Ich bin es gewöhnt, allein zu sein«, dachte Jesper Humlin. Das sagt sie jetzt gleich.
- Ich bin es gewöhnt, allein zu sein.
Die Befriedigung, die es ihm bereitet hatte, Viktor Leander ein paar Stiche zu versetzen, war restlos verflogen. Jesper Humlin sah ein, daß seine Mutter ihn bereits besiegt hatte. Er zog das Glas zu sich hin und verschüttete Wein auf das weiße Tischtuch.
Der Abend würde lang werden.
3
A ls Jesper Humlin am folgenden Tag durch die hohen Türen
in das Verlagshaus trat, war er sehr müde. Das Gespräch mit seiner Mutter hatte sich bis tief in die Nacht hingezogen.
Es war Viertel vor eins, als er an die Tür des Verlegers klopfte. Olof Lundin stand auf dem Namensschild. Es war immer mit einem gewissen Schauder verbunden, wenn Jesper Humlin Lundins Zimmer betrat. Obwohl sie seit vielen Jahren zusammenarbeiteten - Jesper Humlin hatte nie einen anderen Verleger gehabt -, mündeten ihre Gespräche oft in trostlose und vollkommen unzusammenhängende Diskussionen darüber, was eigentlich verkäufliche Literatur sei. Olof Lundin war einer der gedanklich unklarsten Menschen, denen Jesper Humlin in der Buchbranche begegnet war. Bei vielen Gelegenheiten hatte er voller Irritation gedacht, wie unbegreiflich es war, daß ein intellektuell so wirrer Mann wie Olof Lundin imstande gewesen war, zum Verleger dieses traditionsreichen Hauses aufzusteigen.
- Hatten wir nicht Viertel nach eins gesagt?
- Wir hatten Viertel vor eins gesagt.
Olof Lundin war übergewichtig, er hatte ein Rudergerät zwischen den Manuskriptstapeln stehen, die den Boden bedeckten, und einen Blutdruckmesser neben dem überfüllten Aschenbecher. Es war einer der heißesten Kämpfe in der Geschichte des Verlags gewesen, als die oberste Leitung in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Gewerkschaften, die im Hause vertreten waren, im Verlag ein absolutes Rauchverbot eingeführt hatte. Olof Lundin hatte sich strikt geweigert. Er hatte mitgeteilt, daß er mit sofortiger Wirkung
Zimmer rauchen dürfte. Da es einen Graphiker mit der gleichen Einstellung gab, dem die Erlaubnis verweigert wurde, hatte der Konflikt bis in die Chefetage geführt. Der Verlag, seit über hundert Jahren im Familienbesitz, war vor zehn Jahren überraschend an eine
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