Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Geheimnis gegeben. Das beste Geschenk, das man bekommen kann.
    Jesper Humlin betrachtete das Bild. Die drei grinsenden Mädchengesichter fingen schon an, mit dem alten Bild zu

verschmelzen, auf dem die Menschen vor hundert Jahren in ihrem Sonntagsstaat dasaßen und direkt in die Kamera starrten. Sie begaben sich wieder in die Küche. Obwohl es warm war, hatte Tea-Bag ihre Steppjacke nicht abgelegt, nicht einmal den Reißverschluß heruntergezogen. Tanja saß an einer Ecke des Tisches, wo ihr Gesicht im Schatten ruhte, Leyla drückte besorgt an einem Pickel herum, der sich an einem Nasenflügel zeigte. Tea-Bag kippelte auf dem Stuhl vor und zurück.
    - Was ist passiert? fragte Jesper Humlin und dachte, jetzt sei die Zeit vielleicht reif.
    Tea-Bag schüttelte den Kopf und vergrub das Kinn noch tiefer in der dicken Jacke.
    - Sie hat versucht, einen Affen zu stehlen, sagte Leyla.
    - Einen Affen?
    - Einen chinesischen Affen. Aus Porzellan. In einem Antiquitätengeschäft. Er ging kaputt. Er war teuer.
    - Was sollte er kosten?
    - 80000.
    - Wie konnte der so viel kosten?
    - Er war aus einer alten Dynastie. Dreitausend Jahre alt. Das stand auf dem Preisschild.
    - Oh, mein Gott! Was ist dann passiert?
    - Der Besitzer hat die Tür abgesperrt und die Polizei gerufen. Aber sie ist entwischt. Nur die Tasche mit den Handys ist liegengeblieben.
    - Warum wolltest du einen Affen aus Porzellan stehlen?
    Tea-Bag antwortete nicht. Statt dessen stand sie auf und löschte das Licht. Es war jetzt dunkel geworden. Ein Streifen Licht fiel aus Diele und Wohnzimmer in die Küche. Jesper Humlin ahnte, daß er jetzt die Fortsetzung der Geschichte zu hören bekommen würde, die so viele Male unterbrochen worden war. Vielleicht würde er sogar den Schluß erleben dürfen.

» Wenn ich gar nicht weiß, was ich tun soll, suche ich mir auf gut Glück ein Schaufenster aus und sehe nach, ob es irgendwas da hinter der Scheibe gibt, was mir sagt, wohin ich gehen, mit wem ich reden, was ich meiden soll. Ehe ich nach Lagos kam, hatte ich noch nie ein Schaufenster gesehen. Es gab keine Läden in dem Dorf, in dem ich geboren bin, und auch nicht in den kleinen Städten, die verstreut in den Ebenen lagen, wo Wege sich kreuzten und die Flüsse so breit waren, daß man darauf segeln konnte. Aber ich sah also diesen Porzellanaffen im Schaufenster, er hatte Augen, die direkt in meine hineinschauten, und ich fühlte, daß ich ihn in den Händen halten mußte. Hätten die Leute, denen der Laden gehörte, nicht angefangen, an mir zu zerren, ich hätte den Affen einfach zurückgestellt und wäre wieder gegangen. Ich sah diesem Affen in die Augen und verstand, daß er sehr alt war, mehrere tausend Jahre alt, es war, wie in die Augen eines richtig alten Menschen zu sehen, genau wie ich die Augen meiner Großmutter in Erinnerung habe, Alemwas Augen, von denen man langsam wie in einen Wasserfall hineingesogen wurde und dann geradewegs in ihre Seele hineintrieb. Vielleicht waren es eigentlich Alemwas Augen, die im Kopf dieses alten chinesischen Affen steckten, ich weiß es nicht, aber plötzlich war es, als sei ich wieder zurück im Dorf, wo alles anfing, es war, als könnte ich meine ganze Reise, mein ganzes Leben sehen, ganz deutlich, ganz klar, wie den Sternenhimmel nachts über Afrika.
    Alemwa, ich weiß, daß du über mich wachst, obwohl du schon seit so vielen Jahren tot bist. Ich erinnere mich, obwohl ich sehr klein war, wie du dich zum letzten Mal hingelegt und die Augen geschlossen hast. Ich kann es vor mir sehen, wie wir deinen dürren, hageren Körper in eine Bastmatte eingewickelt trugen, oder vielleicht war sie aus Schilf, und dich gleich neben dem Hügel begruben, wo der Weg zum Fluß eine Biegung machte. Papa sagte, daß du ein freundlicher Mensch warst, der

sich immer Zeit für die Probleme anderer Leute genommen hat, und deshalb sollte dein Grab nahe am Weg liegen, wo keine Gefahr bestand, daß du ohne Gesellschaft würdest auskommen müssen. Ich war dir ähnlich, das sagten alle, nicht zuletzt meine Mutter, und ich glaube, sie fürchtete mich auf dieselbe Weise, wie sie dich gefürchtet hatte. Noch immer spüre ich oft deinen Atem dicht an meinem Nacken. Jeden Tag, seit ich hier bin, und immer wieder während der langen Reise. Ich weiß, daß du bei mir bist, wenn eine Gefahr droht, und etwas anderes als Gefahren scheint es in dieser Welt nicht zu geben. Vielleicht war es dein Atem, Alemwa, der mich in dieser Nacht weckte, als die Soldaten kamen und

Weitere Kostenlose Bücher