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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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meinen Vater holten. Ich weiß noch, wie meine Mutter schrie, sie heulte wie ein Tier, das mit der Pfote in einer Falle eingeklemmt ist und versucht, seine eigenen Knochen durchzubeißen, um loszukommen. Ich glaube, das war es, was meine Mutter versuchte, alle ihre Glieder abzubeißen, die Arme, die Beine, die Ohren, die Augen, als sie Papa holten. Sie schlugen ihn blutig, aber er lebte noch, als sie ihn in der Dunkelheit wegschleppten.
    Ich weiß, daß ich in dieser Nacht erwachsen wurde, viel zu schnell, als würde mir die Kindheit abgerissen wie eine Haut. Ich kann mich noch erinnern, was für ein Schmerz es war zu wissen, aber nicht zu verstehen warum, mit ansehen zu müssen, wie mein Vater von lachenden jungen Soldaten wie ein blutiges Bündel weggezerrt wurde. Ich glaube, das war es, was mich erwachsen werden ließ, die Erkenntnis, daß sich Brutalität mit einem Lachen verbinden läßt. In den folgenden Monaten saß meine Mutter jede Nacht vor der Hütte und wartete darauf, daß Vater zurückkommen, plötzlich einfach auf dem Dach sitzen würde, und sie würde ihn mit ihrer sanften Stimme herunterlocken, und dann würden sie für den Rest der Nacht eng umschlungen beieinanderliegen.
    Dann kam diese Nacht, in der wir erfuhren, daß die lachenden Soldaten wieder im Anmarsch waren. Meine Mutter

bedeckte ihr Gesicht mit einem weißen Tuch und saß da und zitterte, als sie von den Soldaten hörte. Ich war damals als einziges Kind zu Hause, und als sie das Tuch vom Gesicht nahm, sah ich, daß sie geweint hatte. Ihr Gesicht war ganz verändert, es hatte sich nach innen gewendet, ich konnte in ihren Augen kein Leben entdecken, und sie schlug mit dem weißen Tuch nach mir, schrie mir zu, ich solle weglaufen. Sie jagte mich weg, damit ich überlebte.
    Von diesem Moment an rannte ich. Ich preßte die Fußsohlen fest auf den Boden, wie mein Vater es mich gelehrt hatte, aber ich rannte ohne Unterlaß. Ich hatte solche Angst, daß ich nicht einmal an dem Hügel stehenblieb, wo der Weg ganz nah an deinem Grab vorbeiführte, Alemwa. Ich glaube, niemand versteht wirklich, was es bedeutet zu fliehen. Wenn man gezwungen ist, aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen und um sein Leben zu laufen. In dieser Nacht, als ich das Dorf verließ, hatte ich das Gefühl, als schleppte ich alle meine Gedanken und Erinnerungen hinter mir her wie eine blutige Nabelschnur, die nicht reißen wollte, ehe ich weit, weit vom Dorf entfernt war. Ich glaube, niemand, der nicht selbst einmal zur Flucht gezwungen war und vor Menschen davongelaufen ist, die drohten, ihn zu töten, kann ermessen, was das bedeutet. Der äußerste Schrecken läßt sich niemals vermitteln, niemals erzählen. Man kann einem anderen Menschen nicht voll und ganz erklären, was es bedeutet, mitten ins Dunkel hineinzurennen, mit dem Tod und dem Schmerz und der Erniedrigung auf den Fersen.
    Von meiner Flucht ist mir nichts in Erinnerung geblieben, nur diese unerhörte Angst, bis ich in Lagos ankam und von einer Welt aufgesogen wurde, von der ich nicht einmal gewußt hatte, daß es sie gab. Ich hatte kein Geld, nichts zu essen, ich wußte nicht, mit wem ich reden sollte. Sobald ich Soldaten erblickte, versteckte ich mich und dachte, das Herz würde mir aus dem Leib springen. Ich versuchte, mit dir zu reden,

Alemwa. Aber es war das einzige Mal, daß ich nicht hörte, was du zu mir sagtest. Vielleicht warst du krank. Ich versuchte, deinen Atem zu spüren, aber da war niemand. Der Atem, den ich schließlich in meinem Nacken spürte, stank nach altem Schnaps und Rauch.
    Wie lange ich in der Stadt war, weiß ich nicht. Aber dann hatte mich meine Verzweiflung so weit getrieben, daß ich mich dazu entschloß, einen Mann zu finden, der mir Geld gab, damit ich meine Flucht fortsetzen konnte. Ich wußte, welchen Preis ich bezahlen mußte. Es galt, einen Mann zu finden, der genug Geld hatte. Aber was war >genug    In den vielen Tagen und Nächten, die ich hungernd in Lagos herumirrte, traf ich andere Menschen, die auf der Flucht waren. Es war, als würden wir einen besonderen Geruch verströmen, den nur andere Flüchtlinge wahrnehmen konnten. Wir waren wie blinde Tiere, die sich mit Hilfe des Geruchs zueinander vortasteten. Alle trugen ihre Träume, ihre Pläne mit sich. Einige hatten beschlossen, sich nach Südafrika zu begeben, andere wollten zu den Hafenstädten in Kenia und

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