Tea-Bag
Ich drehte mich nie um, da ich die Enttäuschung fürchtete, wenn ich noch immer kein Land entdecken konnte. Daher merkte ich es überhaupt nicht, als ich tatsächlich angekommen war. Plötzlich stieß etwas gegen den Boden des Boots. Ich saß fest. Als ich mich umdrehte, bekam ich beinah Angst, so nah war ich an Land. Ich war auf eine Sandbank aufgelaufen und konnte an Land waten. Es war Abend, ich irrte am Strand umher, von fern sah ich Lichter, aber ich wagte mich nicht dorthin, da ich nicht wußte, wo ich mich befand. Ich legte mich in eine Felsspalte, und obwohl es kalt war, schlief ich dort, bis es hell wurde.
Das Boot war verschwunden, es war wieder aufs Meer getrieben worden. Meine Ruder waren weg, und ich war so verzweifelt, daß ich anfing zu weinen. Dann ging ich landeinwärts. Plötzlich sah ich eine Fahnenstange mit einer blaugelben Flagge. Da wußte ich, daß ich in Schweden war. Es
war ein kindlicher Gedanke, aber ich trauerte darüber, daß ich meine Ruder nicht bei mir hatte, um den Menschen dort zu zeigen, was wir gemeinsam vollbracht hatten.
Als ich in Tallinn zusammen mit Inez und Natalia und Tatjana im Bordell eingesperrt war, hatten wir ein Lexikon mit allen Flaggen der Welt. Wir lernten sie auswendig. Frag mich, wie Kameruns Flagge aussieht, oder Mexikos. Ich kann sie in allen Einzelheiten beschreiben. So ging es also zu, als ich hierher in dieses Land ruderte.«
Jesper Humlin wartete auf eine Fortsetzung, die nicht kam. Während Tanja erzählte, hatte er am Fenster gestanden und sie betrachtet, unten vor dem Haus, mitten auf dem leeren Feld. Er fragte sich, ob er jemals wieder ein solches Telefongespräch führen würde.
- Wohin warst du gekommen?
- Nach Gotland.
- Unglaublich! Was hast du dann gemacht?
- Das schaffe ich jetzt nicht zu erzählen.
- Was ist eigentlich in Tallinn passiert?
- Kannst du dir gar nichts selber denken?
- Es ist deine Geschichte. Ich will nicht meine eigenen Gedanken hineinmischen.
- Ich sage nichts mehr.
- Du bist nach Tallinn gelockt worden. Es gab kein Restaurant. Du hast dort ein paar andere Mädchen getroffen, die sich in derselben Lage befanden wie du. Eine hieß Natalia und eine andere Tatjana. Aber wer sind Inez und Tanja? Und wer ist Irina?
- Ich beantworte keine Fragen mehr. Es ist kalt, hier zu stehen und zu telefonieren.
- Warum kommst du nicht herauf?
- Keine Zeit. Ich habe dir eine Tüte mit Essen vor die Tür gestellt.
Das Gespräch wurde abgebrochen. Tanja winkte ihm zu. Er sah sie im Wind verschwinden. Du bist nicht von Estland hierher gerudert, dachte er. Du hast dir die Geschichte von Tea- Bag ausgeborgt. Ihr borgt Erzählungen voneinander, genau wie ihr euch Identitäten oder Handys borgt. Aber irgendwo steckt auch eine Wahrheit in dem, was du erzählt hast.
Jesper Humlin dachte an das, was Tanja gesagt hatte, und holte die Tüte mit Hamburgern und Coca-Cola herein, die sie vor die Tür gestellt hatte. Er setzte sich an den Küchentisch der Familie Yüksel und aß. Tanjas geborgte oder umgedichtete Geschichte, an einem gestohlenen Handy erzählt und von einem anderen gestohlenen Handy übermittelt, ließ ihm keine Ruhe. Er befand sich mitten in einer eigentümlichen Erzählung, oder vielleicht hüpfte er eher wie auf Eisschollen zwischen verschiedenen Erzählungen hin und her, die ineinanderglitten, alle gleich eigenartig, alle ohne Anfang und Ende. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl, daß er sich in der Nähe von etwas befand, das wichtig war.
Er zog die Papiere zu sich heran und fuhr mit seinen Notizen fort. Aber die Geschichten begannen sich schon zu entwickeln, er fügte Einzelheiten hinzu und entdeckte nicht nur einen, sondern mehrere Entwürfe für Erzählungen über jenen Teil der Gegenwart, den er kaum gekannt hatte, ehe er durch einen Zufall nach Stensgården geraten war.
Ich weiß nicht, was ich hier treibe, dachte er. Eigentlich mache ich mir am meisten Gedanken darüber, ob Viktor Leander mehr Bücher verkauft als ich, ob meine Aktien völlig wertlos werden, daß meine Mutter auf dem besten Wege ist, verrückt zu werden, und daß Andrea mich verlassen wird, wenn ich nicht ja dazu sage, daß wir uns Kinder zulegen. Aber vielleicht sollte es mich viel mehr beunruhigen, was diese Mädchen mir erzählen? Was ich sie erzählen höre, handelt von ihnen. Aber handelt es nicht genausosehr von mir selbst?
Es war genau fünf Uhr, als Jesper Humlin Tanjas diskretes Klopfen an der Tür der Familie Yüksel
Weitere Kostenlose Bücher