Tea-Bag
wären zu Sacha nach Hause gegangen. Und von da sind sie dann zu mir nach Hause gegangen. Aber wenn Leylas Eltern anrufen, haben wir das schon erfahren, weil Fatimas Bruder bei denen ans Telefon geht. Und Fatimas Bruder ruft mich an, und dann bleibt Leyla genug Zeit, um nach Hause zu fahren. Nicht von mir aus, sondern von Fatima aus. Obwohl sie nicht dagewesen ist.
Jesper Humlin ahnte mehr, als daß er wirklich verstand, wie Leylas Sicherheitsnetz aussah. Leyla verließ das Cafe.
Sie lächelte ihm zu, ein verborgenes Lächeln, für Außenstehende nicht zu erkennen. Gleich darauf erhob sich Tanja und nickte ihm zu, ihr zu folgen. Sie nahmen eine Straßenbahn hinaus nach Stensgården. Als sie dort angekommen waren, lotste Tanja ihn zu einem der Hochhäuser am Rand der trostlosen Wohnsiedlung. Sie nahmen den Aufzug in den siebten Stock. Jesper Humlin hatte erwartet, daß »Nilsson« an der Tür stehen würde, hinter der Tanja wohnte. Aber als sie ihn flüsternd ermahnte, leise zu sein, und dann
einen der Dietriche zum Öffnen der Tür benutzte, verstand er, daß es nicht so einfach war.
- Zieh deine Schuhe aus, sagte sie, als sie in den Flur getreten waren. Mach weder Radio noch Fernseher an.
- Ist das nicht deine Wohnung?
- Ich wohne hier immer, wenn sie leer steht.
- Du hast keinen Schlüssel?
- Ich brauche keine Schlüssel, um Türen zu öffnen.
- Das ist mir bekannt. Wer wohnt hier?
- Die Familie Yüksel.
- Sind das Verwandte von dir?
- Ich habe keine Verwandten.
- Wie kannst du dann hier wohnen?
- Sie sind zur Zeit in Istanbul.
- Wissen sie überhaupt, daß du hier wohnst?
- Nein.
- Ich dachte, du hättest gesagt, wir würden bei dir zu Hause sein?
- Das ist bei mir zu Hause. Ich finde heraus, welche Wohnungen leer stehen. Wo die Leute verreist oder ausgezogen sind. Dann wohne ich da. Und verschwinde, wenn die Leute, die eigentlich da wohnen, wiederkommen oder neue Bewohner einziehen.
- Wie erfährst du, welche Wohnungen leer stehen?
- Leyla weiß über alles Bescheid, was in dieser Siedlung passiert. Sie erzählt es mir.
Jesper Humlin versuchte nachzudenken.
- Du hast also keine eigene Wohnung?
- Wie sollte ich, da es mich nicht gibt?
- Was meinst du damit, daß es dich nicht gibt?
- Du hast den Ausweisungsbescheid selber gesehen. Die Polizei sucht mich. Nachdem ich jetzt meinen Führerschein vorzeigen mußte, werden sie Tatjana Nilsson früher oder später mit der Person verbinden, die ich wirklich bin.
- Und wer ist das?
Tanja schrak zusammen und sah ihn an.
- Du weißt, wer ich bin. Jetzt beantworte ich keine Fragen mehr. Mach nicht auf, wenn es an der Tür klingelt. Geh nicht ans Telefon. Ich bin in ein paar Stunden wieder da.
- Ich kann mich nicht in einer fremden Wohnung aufhalten, in der jederzeit fremde Leute zur Tür hereinkommen können.
- Sie kommen nicht vor nächster Woche. Leyla hat eine Kusine, die in dem Reisebüro arbeitet, wo sie ihre Fahrkarten kaufen.
- Es macht mich nervös, hierzusein.
- Was meinst du, wie es mir damit geht, die ganze Zeit zu wissen, daß ich aus dem Land geworfen werde, wenn die Polizei mich schnappt?
Jesper Humlin wußte nicht, was er antworten sollte.
- Gibt es einen Ort, wo ich mich hinlegen und ausruhen kann?
- Es gibt in jedem Zimmer Betten. Die Familie Yüksel ist groß.
Tanja rauschte ab. Vorsichtig schlich Jesper Humlin in der Wohnung der Familie Yüksel herum und legte sich in einem Zimmer ins Bett, das, angesichts der Fußballplakate an der Wand, vermutlich von einem halbwüchsigen Sohn bewohnt wurde. Er zog die Decke bis zum Kinn und dachte, daß er sich mitten in etwas befand, was er sich in seinen wildesten Phantasien nicht hätte vorstellen können. Dann schlief er ein.
Die Kaffeetasse war leer. Er trug sie hinaus in die Küche. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Er blieb stehen und ließ den Blick über die Wände gleiten. Auf einem Regal stand eine große Anzahl von Fotografien in vergoldeten Rahmen. Kinder verschiedenen Alters, ein Hochzeitsbild, ein Mann in Uniform. Über dem Regal hing eine Fahne, von der er annahm, es sei die türkische. Ich befinde mich mitten in einer großen Erzählung, dachte er. Alles, was mir geschieht, alles, was diese
Mädchen erzählen oder nicht erzählen, was sie tun oder nicht tun, kann ich vielleicht zu einer Geschichte formen, die noch nie zuvor erzählt worden ist. Tea-Bag ist Gott weiß wohin verschwunden, Schäferhunde werden in ein leeres Boxstudio gehetzt. Ich befinde mich in
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