Tea-Bag
nicht so, wie du glaubst. Sofort war Jesper Humlin auf der Hut.
- Was glaube ich denn?
- Daß dieses Land im Grunde ruhig und friedlich ist.
- Das glaube ich überhaupt nicht.
- Deine Gedichte verraten keine größere Kenntnis der Wirklichkeit.
Empört sprang Jesper Humlin auf.
- Setz dich hin, sagte Pelle Törnblom. Du reagierst immer viel zu heftig. Keins von diesen Mädchen hat es leicht gehabt. Sie haben es immer noch nicht leicht.
Jesper Humlin sah widerstrebend ein, daß Pelle Törnblom recht hatte. Er setzte sich wieder. Erneut beschlich ihn das Gefühl, daß er sich möglichst schnell aus der ganzen Sache herausziehen und lieber klein beigeben und diesen Kriminalroman schreiben sollte, den die Öldirektoren und Olof Lundin von ihm erwarteten.
Plötzlich schrak er zusammen. Haiman stand in der Tür.
- Ich wollte nur mitteilen, daß das Mädchen, das Tea-Bag heißt, überhaupt nichts schreibt. Wenn du willst, werde ich ihr sagen, daß sie tun soll, wie ihr geheißen wurde.
Jesper Humlin konnte sich unschwer vorstellen, wie Tea-Bag reagieren würde.
- Es ist wohl besser, sie machen zu lassen, was sie will.
- Dann finde ich, man sollte sie rauswerfen.
- Man kann niemanden zwingen zu schreiben, der es nicht will.
- Sie ist ein schlechtes Vorbild für die anderen Mädchen. Die schreiben nämlich. Ich bin selbst herumgegangen und habe es kontrolliert.
In der Gesellschaft von Pelle Törnblom fühlte Jesper Humlin sich sicher.
- Ich brauche keine Schreibwache.
- Ich will, daß sie sich ordentlich benehmen.
- Laß sie in Ruhe, dann wird es sich schon regeln. Haiman verließ das Zimmer. Aber das lag weniger an
Jesper Humlins Worten als an dem nachdrücklichen Nicken von Pelle Törnblom.
- Ich will ihn nicht hier haben, zischte Jesper Humlin, als Haiman gegangen war. Ich kann keinen gebrauchen, der herumgeht und kontrolliert.
- Haiman ist in Ordnung. Er will, daß sie sich ordentlich benehmen.
- Ist er auch mit Leyla verwandt?
- Nein. Aber er ist ein Mensch, der Verantwortung übernimmt.
Als genau zwanzig Minuten um waren, kehrte Jesper Humlin in den Raum zurück, in dem die Mädchen warteten. Tea-Bag saß regungslos da, das Kinn tief in die Jacke gedrückt. Tanja und Leyla erhoben sich in ihren verschiedenen Ecken und kamen nach vorn an den Tisch.
- Jetzt lesen wir, sagte Jesper Humlin. Wer will anfangen?
Er wandte sich an Tanja.
- Hast du etwas geschrieben? Tanja sah ihn wütend an.
- Warum sollte ich nicht?
- Weil du es das letzte Mal nicht getan hast.
Tanja wedelte mit dem zerknitterten Papier vor seiner Nase herum.
- Lies vor, sagte Jesper Humlin.
Tanja sammelte sich. Tea-Bag war noch immer tief in ihre eigenen Gedanken und ihre dicke Jacke gehüllt. Leyla machte
einen besorgten Eindruck. Jesper Humlin vermutete, daß sie die Befürchtung hatte, Tanja könnte etwas Gutes geschrieben haben.
Tanja las:
»Das Wichtigste, was mir heute passiert ist, ist, daß ich aufgewacht bin.«
Jesper Humlin wartete auf eine Fortsetzung, die nicht kam.
- War das alles? fragte er vorsichtig. Tanja geriet in Wut.
- Du hast nicht gesagt, daß es lang sein soll. Hast du das gesagt? Nein, hast du nicht. Es ist ein Gedicht.
Sofort ging Jesper Humlin in Deckung.
- Ich habe nur gefragt, um mich zu vergewissern, ob das alles war. Das ist gut, Tanja. Das Wichtigste, was mir heute passiert ist, ist, daß ich aufgewacht bin. Ausgezeichnet. Absolut wahr. Was wäre geschehen, wenn du nicht aufgewacht wärst?
- Ich wäre tot gewesen.
Jesper Humlin sah ein, daß er Tanja wohl nicht dazu bringen würde, ihre Vorstellung vom wichtigsten Ereignis des Tages weiter auszuführen. Er wandte sich an Tea-Bag.
- Ich habe nichts geschrieben.
- Warum nicht?
- Heute ist nichts Wichtiges passiert.
- Überhaupt nichts?
- Nein.
- Auch wenn nichts passiert, was einem wichtig erscheint, kann man doch der Ansicht sein, daß irgend etwas es wert ist, aufgeschrieben zu werden. Um der Erinnerung willen.
Leyla ergriff plötzlich Tea-Bags Partei.
- Was ist dir denn heute so Wichtiges passiert? Jesper Humlin gab auf und wollte gerade Leyla bitten, ihren Text vorzulesen, als Tea-Bag sich Tanjas Schreibblock schnappte und eine leere Seite herausriß. Dann stand sie auf und las von dem unbeschriebenen Blatt ab:
»Sie, sie, die andere, sie, die nicht ich ist, aber trotzdem dem Gefühl nach meine Schwester sein könnte, sie, die auf der Straße neben dem Blumenladen die gelben Plastikfrösche verkauft, sie, die meine einzige
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