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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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gesehen habe. Sie erzählt, wer die Leute sind und wie sie heißen, und daß sie alle mit uns verwandt sind, obwohl das nicht wahr ist.
    Mama hat nämlich gesagt, daß Großmutter, seit wir in Schweden sind, immer nach weggeworfenen Fotografien gesucht hat. Sie hat in Müllcontainern und Kellerverschlägen gesucht, und alle Bilder, die sie fand, hat sie an die Wand gehängt, den Menschen Namen gegeben und sie zu Vettern und Kusinen ersten und zweiten Grades ernannt, oder was es noch für seltsame Verwandtschaftsgrade gibt. Sie hat ihnen ein Geburtsjahr gegeben und sie still in ihren Betten sterben lassen, oder an schweren Unfällen, sie hat ihnen Berufe

gegeben und sie zu Poeten oder Sängern oder bemerkenswerten Männern gemacht, die in die Wüste gegangen sind, um himmlische Visionen zu haben, oder zu Frauen, die Kinder geboren haben, denen Diamanten aus dem Mund fielen, als sie ihren ersten Schrei ausstießen. Obwohl ich weiß, daß nichts von dem, was sie sagt, wahr ist, mache ich immer mit ihr diese Runde, und sie ändert nie ein Wort an ihren Erzählungen. Die Fotografien sind Großmutters große Familie, und manchmal hat man das Gefühl, als ob es wirklich so ist, wie sie sagt.
    Die ganze Zeit, während wir unseren Rundgang machten, war Torsten mit Putzen beschäftigt. Ich fühlte, daß er mich ansah, wenn ich ihm den Rücken zukehrte, und ich errötete, obwohl er mein Gesicht nicht sehen konnte. Als letztes zeigt Großmutter mir immer das Bild von einem Mann, der mit einem Gewehr in der Hand dasteht. Er lacht direkt in die Kamera, und Großmutter nennt ihn Adjeb, den Häuptling, der irgendwo draußen in der Wüste ist und eines Tages ein Wunder vollbringen wird, das unser Leben verändern wird. Einmal habe ich Großmutter gefragt, was das denn für ein Wunder ist, das er vollbringen wird. Aber da ist sie böse geworden und hat nach mir geschlagen. Es war das einzige Mal, daß sie mich geschlagen hat, sie wollte nicht, daß ich frage, ich sollte ihr nur zuhören.
    Als wir die Fotografien durchgegangen waren und Großmutter wieder mit einer Decke um die Beine in ihren Sessel vor dem Fernseher saß, kam Torsten herein und sagte, er sei fertig mit seiner Arbeit, er würde jetzt gehen, aber am Freitag wiederkommen. Ich war enttäuscht und wollte etwas sagen, fand aber nicht den Mut. Großmutter klopfte ihm leicht auf die Wange, und dann verschwand er durch die Tür.
    - Ein guter Junge, sagte Großmutter und strich sich mit der Hand über die Haare. Bevor er kam, wußte ich nicht, daß ein Mann meine Haare so gut kämmen kann.

Ich sah, daß Großmutters Haare so gründlich gebürstet waren, daß sie glänzten. Sie sind lang, wenn sie sie offen trägt, reichen sie ihr weit den Rücken hinunter. Ich verstand nicht, daß Großmutter, die vor allem und jedem in diesem Land solche Angst hat, einem Jungen wie Torsten erlaubte, ihr die Haare zu bürsten und zu kämmen. Ich wollte sie fragen, woher er kam, wie sie ihn gefunden hatte, aber ich wagte es nicht, weil ich fürchtete, sie könnte böse werden.
    Plötzlich ergriff Großmutter meine Hand und deutete auf den Fernseher. Da lief eine Sendung über ein Flüchtlingslager in Afrika. Ein kleines schwarzes Mädchen, entsetzlich dürr, ging zwischen niedrigen Sträuchern am Rand von etwas herum, das wie eine Wüste aussah. Sie ging langsam, zögernd, und zeigte mit dem Finger auf etwas. Plötzlich sahen wir eingeschlagene Schädel und weiße, abgebrochene Teile von einem Gerippe. Das Mädchen weinte und sprach eine Sprache, die ich nicht verstand, aber es gab einen Text unter den Bildern, dem ich folgen konnte, und sie erzählte, daß ihre Eltern dort totgeschlagen worden waren, von Soldaten, die berauscht waren von Schnaps und Blutdurst, und sie hatte es mit angesehen, und alle waren gestorben außer ihr, weil sie unter ihre eigene Mutter zu liegen kam, nachdem die Soldaten sie getötet hatten.
    Wir saßen ganz still, Großmutter hielt meinen Arm so fest gepackt, daß es beinahe weh tat. Wir mußten diesem Mädchen zusehen, das unter all den Toten herumging und weinte, und Großmutter und ich fingen beide auch an zu weinen. Plötzlich drehte sich das Mädchen um, es hatte sich zur Kamera gewandt oder zu dem Menschen, der sie hielt, aber es war, als würde das Mädchen uns ansehen, als hätte es gehört, daß wir weinten. Dann war der Film zu Ende, er wurde einfach abgeschnitten, und ohne daß der Bildschirm schwarz wurde, ohne eine einzige Sekunde Pause fing eine

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