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Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Sendung darüber

an, wie man es in einem sehr kalten Klima anstellt, Tomaten in einem Gewächshaus zu ziehen.
    Es war wie ein Schock, nach diesem weinenden Mädchen unter all den Toten jetzt diese Leute zu sehen, die über Tomaten diskutierten, als gäbe es die Welt gar nicht. Ich versuchte zu hören, ob nicht irgendwelche Geräusche von dem weinenden Mädchen in das Studio drangen, in dem sie über Tomaten redeten, aber ich hörte nichts. Großmutter drückte wütend auf die Fernbedienung, sie weiß nicht richtig, wie man das macht, daher drückt sie alle Knöpfe, bis es schwarz wird. Dann tranken wir Tee, wir sagten nichts, es war, als sei die Kleine bei uns in der Wohnung. Ich dachte an sie und ich dachte an Torsten, und Großmutter dachte an etwas, das so weit weg war, daß sie die Augen schloß und vergaß, ihren Tee zu kosten, ehe er kalt wurde. Draußen vor dem Fenster schneite es noch, aber die Flocken kamen jetzt spärlicher. Großmutter schob die Tasse weg, sah mich an und fragte plötzlich, wieso ich nicht in der Schule war.
    - Ich habe frei.
    - Warum hast du frei?
    - Heute ist irgendein Feiertag. Ich weiß nicht.
    - Alle Kinder hier im Haus sind wie gewöhnlich in die Schule gegangen.
    Es wurde schwieriger und schwieriger zu lügen. Aber es gab kein Entkommen.
    - Es ist ein Feiertag in dem Land, das Stensgården heißt.
    Großmutter nickte. Ich wußte nicht, warum ich das sagte, daß Stensgården und Nydalen verschiedene Länder seien, so wie ich es mir vorgestellt hatte, als ich in der Straßenbahn saß und wütend war, weil es so früh war und ich nicht schlief. Aber Großmutter glaubte mir, oder sie hatte nicht die Kraft, weiter zu fragen. Ich spülte die Tassen ab. Danach wußte ich nicht, was ich machen sollte; ich konnte nicht nach Hause gehen, denn dann würde Mama mich schelten, weil ich die Schule

schwänzte. Ich konnte immer noch zum Unterricht gehen und sagen, ich hätte morgens Bauchweh gehabt oder meine Großmutter sei krank geworden, es kümmert eigentlich niemanden, wenn ich erstmal in der Schule angekommen bin. Aber ich wollte da nicht hin. Bei Großmutter wollte ich aber auch nicht bleiben. Es kam vor, daß sie Karten spielen wollte, ein Spiel, das sie sich selber ausgedacht hatte, ein Spiel, dessen Regeln ich immer noch nicht begriffen habe, das aber Stunden dauert.
    Ich stand auf und sagte, ich würde nach Hause gehen. Großmutter nickte, erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und strich mir über die Wange. Wenn sie das tut, sind ihre Augen das Schönste, was ich kenne, es ist, als würde ich ganz ruhig, wenn sie mich berührt, ich denke nicht mehr an die Katze mit den abgeschnittenen Pfoten, ich spüre, wie alles still wird, und als ich kleiner war, träumte ich davon, daß ich in diesem Augenblick, mit Großmutters Hand an meiner Wange, den Mann sehen würde, den ich einmal lieben sollte. Aber bei Gott, jetzt sage ich es schon wieder, ich gebrauche seinen Namen, der einzige, den ich vor mir sah, war Torsten.
    Ich zuckte zusammen, als hätte ich mich an Großmutters Hand verbrannt, sie konnte ja nicht wissen, daß es Torsten war, den ich sah, und nicht einer von den schönen Männern, von denen sie immer redet, vielleicht einer von Mamas Neffen zweiten Grades, die nicht nur Fotografien an den Wänden ihrer Wohnung sind, sondern lebende Menschen, die sich in einem fernen Land befinden oder in einem Flüchtlingslager. Wir haben Verwandte in aller Welt, in Australien, in den USA und sogar auf den Philippinen, es ist, als würden Familien, die auf der Flucht sind, von etwas anderem als Granaten zersprengt, die Flucht und die Angst sprengt uns in Stücke, und die einzelnen Teile fallen an Orten zu Boden, von denen wir kaum wissen, wo sie liegen. Aber am Ende spüren wir einander doch immer auf.

Ich erinnere mich, wie vor zwei Jahren plötzlich ein Brief von Taala kam, einer von Mamas vier Schwestern, die einfach verschwunden war und uns jetzt plötzlich aufgespürt hatte und erzählen konnte, daß sie lebte und in einer Stadt in Amerika wohnte, die Minneapolis hieß. An diesem Abend fing Mama an zu tanzen, Papa saß auf dem Sofa und sah ihr zu, er war ganz klein dabei, ein kleiner Junge, und er sah, wie sie sich durch die Zimmer unserer Wohnung bewegte, es war, als machte es ihn verlegen, sie froh zu sehen nach so vielen Jahren der Angst und des Kummers und des Eingesperrtseins. Sie tanzte, bis die Wände einstürzten und die Fenster aufsprangen, sie trat aus sich selbst heraus und

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