Techno der Jaguare
siehst ihn nicht?« Die Lehrerin ließ den Stock sinken. »Dann komm hierher, schau ihn dir von hier vorne an.«
»Ich kann ihn nicht sehen … auch nicht von hier vorne …«
Die Lehrerin ging zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte ruhig zu ihm:
»Gut, dann setz dich wieder hin … Und sag deiner Mutter, dass sie morgen mit dir herkommen soll.«
***
Lisa, die von Alexanders Schweigen sichtlich irritiert war, fing an, auf dem Sessel hin und her zu rutschen.
»Verzeihen Sie … ich hatte angenommen, Sie würden sich noch an Ihr erstes Werk erinnern«, sagte sie zögernd. »Es muss aber auch nicht das erste sein. Beginnen Sie doch mit dem Moment, als Sie erkannt haben, dass Sie sich für die bildende Kunst interessieren. Womit hat das alles angefangen? …«
***
Lisa hatte sich bereits seit einigen Monaten mit dem Thema ›Behinderte‹ beschäftigt und war dabei auch auf diesen blinden Künstler gestoßen. So konnte sie den Chefredakteur leicht davon überzeugen, dass sie besonders gut geeignet war, das Interview mit dem modernen Michelangelo zu führen.
»Er ist ja nicht einfach nur irgendein Künstler! Ich weiß, eigentlich gehört das in die Rubrik ›Kultur‹, aber … ich finde, dass das eher mein Metier ist. Ich beschäftige mich schon eine ganze Weile mit behinderten Menschen. Und er ist eben nicht einfach nur ein Künstler, sondern obendrein ein Sehbehinderter … ein Blinder, der sich an die Erinnerungen seiner Kindheit klammert und sie dann mit seinen Händen in Ton formt.« Lisa sprach laut, ohne Pausen und gestikulierte wild dazu. »Dafür braucht man einen ganz anderen Ansatz …«
Im Büro des Chefredakteurs saßen außer ihm und Lisa noch zwei weitere Journalisten und ein Sekretär, die ihr wie gebannt lauschten. Anscheinend hatte sie Eindruck auf sie gemacht.
»Na gut, Lisa …«, unterbrach sie der Chefredakteur vorsichtig. »Aber das größte Problem dabei ist doch, ihn überhaupt für ein Interview zu gewinnen. Dieser Mann ist ziemlich medienscheu. Vom Fernsehen will er überhaupt nichts wissen. Bisher war nur zweimal etwas über ihn in der Presse. Das erste Mal, als er noch jung war, und dann noch einmal vor zwei Jahren, da hat er sich selbst an die Presse gewendet.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber damals ist sein Agent zu einer anderen Zeitung gegangen … Na, schauen wir mal, wie weit Sie bei ihm kommen …«
***
Die Stille im Raum wurde von den Schritten des Agenten durchbrochen. Kühl gab er Lisa die Hand, schenkte ihr aber weiter keine Aufmerksamkeit, sondern legte Alexander eine Hand auf die Schulter und fragte ihn:
»Brauchst du mich noch?«
»Heute nicht mehr.« Die erste Antwort des Künstlers.
»Die Bücher, die wir letzte Woche bestellt haben, sind angekommen. Alle vier sind Unikate, zwei davon sogar Handschriften … soll ich sie reinbringen lassen?«
Alexander sagte nichts, er schüttelte nur den Kopf. Lisa saß irritiert da, sie wusste nicht, von welchen Büchern die Rede war. Sofort dachte sie an Bücher in Blindenschrift, doch mit ›Handschriften‹ konnte sie in diesem Zusammenhang nicht viel anfangen. Der Agent ging hinaus. Lisa räusperte sich, als ob sie ihren blinden Interviewpartner an ihre Anwesenheit erinnern wollte.
***
Zum ersten Mal war er mit Ton in Berührung gekommen, als er die Grundschule verließ. Bis seine Mutter eine Sonderschule für ihn gefunden hatte, ließ sie ihn, während sie arbeiten ging, bei einem Nachbarn, der selbst Bildhauer war. Der Mann gab ihm den übrig gebliebenen Ton und ließ ihn in einer Ecke seiner Werkstatt damit spielen. Seitdem er sich auf seine Lebenslüge eingelassen hatte, war Alexander dazu gezwungen, alles mit den Händen zu ertasten, als wenn er wirklich schlecht sehen würde. Am schwersten war es dabei, den Augenarzt zu täuschen, aber er fiel nie aus seiner Rolle. Er spielte sie so konsequent, dass alle glaubten, sie hätten es hier mit einem spezifischen Fall zu tun. An seinen Augen ließ sich kein Fehler diagnostizieren, auch Hornhaut und Netzhaut waren intakt, und dennoch hatte der kleine Patient diese Beschwerden und konnte nicht sehen.
Es war nicht viel Ton, der ihm zur Verfügung stand. Also betrachtete er jede fertige Figur nur eine kurze Weile, bevor er sie wieder zusammendrückte, um gleich darauf die nächste zu formen, damit die Masse nicht trocknete, sondern formbar blieb. Und so verwandelte sich ein Tier in einen Menschen, der Mensch in einen Gegenstand,
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