Techno der Jaguare
Als er dann eine Brille bekam, wurde das Spiel sogar einfacher, denn durch die dicken Brillengläser sah ohnehin alles verschwommen aus.
Eines Morgens, als er im Schlafsaal der Blindenschule erwachte, wo überall von den weißen Wänden die Farbe abblätterte, bemerkte er, dass die Konturen um ihn herum auch ohne Brille immer mehr verschwammen. Er beobachtete seine blinden Mitschüler, wie sie, frisch aufgewacht, mit langsam tastenden, fast hilflosen Bewegungen aus ihren Betten kletterten, und bekam Angst. In dem vom Lügen bereits schwer ermüdeten Kopf des kleinen Alexander reifte ein neuer Plan heran. Um sich seine Sehfähigkeit zu erhalten, musste er die Brille abnehmen und alle davon überzeugen, dass sie ganz umsonst auf seiner Nase laste, weil er ja ohnehin nichts sehen konnte. Eine Woche lang bereitete er sich darauf vor. Um den Blindentest zu bestehen, stellte er sich selbst Dutzende Aufgaben. Am schwierigsten war es, keine Reaktion zu zeigen, wenn etwas schnell auf ihn zukam. Manchmal passierte es aber doch, dass er blinzeln musste oder zusammenzuckte. Zu dieser Zeit freundete er sich mit einem seiner Mitschüler an, den er über alles, was mit dem Blindsein zusammenhing, ausquetschte. So kam er diesem Zustand immer mehr auf die Spur. Gleichzeitig achtete er auch auf seine Bewegungen. Er blickte in die lichtlosen, nichtssagenden Augen seiner Schulkameraden und versuchte sie zu imitieren. Einen richtigen Test gab es sowieso nicht. Niemand fragte genauer nach, man nahm ihm nur einige Dinge ab und registrierte ihn als Vollblinden.
In diesem Halbjahr kam ihn seine Mutter zweimal besuchen. Beide Male bekam er Herzklopfen. Er hatte seine Augen schon so gut geschult, dass er, ebenso wie sein blinder Freund, regungslos und leicht schielend ins Nichts starrte. So empfing er auch seine Mutter. Sie erstarrte bei seinem Anblick, dann umschlang sie ihn mit den Armen und drückte ihn an sich. Alexander klopfte das Herz bis zum Hals. Obwohl er seine Gefühle inzwischen meisterhaft kontrollieren konnte, liefen ihm einige Tränen die Wange hinunter und tropften auf das hellgrüne, altbekannt duftende Kleid seiner Mutter. Plötzlich schien es ihm, als hätte er eine nicht wiedergutzumachende Dummheit begangen und dass es besser gewesen wäre, wenn er alle Demütigungen hingenommen hätte und stattdessen zu Hause geblieben wäre. Dass es besser gewesen wäre, wenn er sich Stunden, Wochen, Monate mit den Buchstaben herumgeschlagen hätte, denn dann wäre er nicht in diesem winzigen Gefängnis gelandet, wo er tagtäglich die abblätternde Farbe an den Wänden anstarren, sich mit dem Schmerzen seiner zwangsweise erstarrten Augen plagen und die ewig gleiche Gemüsesuppe essen musste. Jetzt schien es ihm, es wäre besser gewesen, wenn ihn alle für geistig zurückgeblieben gehalten hätten; er hätte es sogar vorgezogen, wenn seine Mutter immer wieder die Beherrschung verloren und ihn geschlagen hätte. Er hätte vielleicht sogar aufhören sollen, die Blessuren, die sie ihm zufügte, zu verstärken, um ihre Schuldgefühle zu schüren. Er hätte besser alles ertragen, ihr alles verzeihen sollen … damit endlich dieses schreckliche Gefühl der Sehnsucht und der Einsamkeit aufhören würde …
Seine Mutter verabschiedete sich wieder. Alexander blickte ihren eleganten Schritten nach, die sie zu seinem Erstaunen zum Auto seines Lehrmeisters führten, des Bildhauers aus der Nachbarschaft. Der Wagen fuhr davon; der Junge aber stand gedankenverloren da und starrte wie ein wirklicher Blinder ins Leere.
Alexander konnte nicht verstehen, warum seine Leistungen in der Schule so wichtig waren. So war es ihm jedenfalls vorgekommen. Er dachte, seine Mutter würde ihn nicht mehr lieben, wenn er nicht schreiben lernte, dass sie ihn hassen würde, wenn er die Wörter nicht lesen konnte und alle ihn auslachten … Am wichtigsten dabei war aber immer noch seine Mutter …
In der Blindenschule fiel ihm das Lernen ebenso schwer. Der Stoff war hier zwar wesentlich leichter, aber lesen und schreiben lernte er auch mit der Brailleschrift nicht.
***
»Wem zeigen Sie Ihre Werke zuerst? Auf wessen Meinung legen Sie den größten Wert?« Lisa beugte sich vor und stützte ihr Kinn auf die Hand, in gespannter Erwartung der Antwort.
Ihre Haltung und ihr aufmerksamer Blick sollten ihrem Gesprächspartner schmeicheln, doch dann fiel ihr wieder ein, dass die Pose in diesem Fall vollkommen zwecklos war.
***
Am Abend zuvor hatte sie noch bis spät in
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